Immer da und immer anders – Über das Storytelling zur Markenbestimmung und in der Kommunikation.

Von Kim Christopher Birtel, freier strategischer Planer

 

„Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, eine Art innere Erzählung, deren Gehalt und Kontinuität unser Leben ist. Man könnte sagen, dass jeder von uns eine „Geschichte“ konstruiert und lebt. Wenn wir etwas über jemanden erfahren wollen, fragen wir: „Wie lautet seine Geschichte, seine wirkliche, innere Geschichte?“ Jeder Mensch ist eine einzigartige Erzählung, die fortwährend und unbewusst durch ihn und in ihm entsteht – durch seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Handlungen und nicht zuletzt durch das, was er sagt. Biologisch und physiologisch unterscheiden wir uns nicht sehr voneinander – historisch jedoch, als gelebte Erzählung, ist jeder von uns einzigartig.“
Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Storytelling avanciert gerade zu einem neuen Lieblingsthema der Marketingindustrie. Dabei war das Thema nie weg, aber wir waren einfach verdammt schlecht darin. Die sogenannte Reizüberflutung forderte schnelle Schüsse ins Hirn. Für gut erzählte Geschichten war da kein Platz. Doch gerade in Zeiten intensivierter und heterogener Beziehungssysteme werden Geschichten immer wichtiger, um Ideen nahbar und nachvollziehbarer zu verbreiten.

Geschichten sind ein Container für Wissen und Weisheiten. Sie helfen uns, die Welt, in der wir leben, erklärbar zu machen. Diese soziale Kulturform entstand zu einer Zeit, als wichtige Erfahrungen nicht archiviert werden konnten. So verpackten wir Menschen Erfahrungen in Lagerfeuergeschichten, die über Generationen weitererzählt wurden. Kein Wunder also, dass unsere Gedächtnisstruktur so aufgebaut ist, dass Geschichten, die uns berühren, für immer in Erinnerung bleiben.

Wir Menschen lieben Geschichten. Dafür gibt es gute Gründe. Wir Menschen teilen alle grundlegende Sehnsüchte und Ängste. Um diese zu stillen oder zu begegnen, entwickelten wir im Laufe unserer Sozialisation grundlegende Lösungsstrategien, die sich auch als Archetypen beschreiben lassen. Diese archetypischen Lösungsstrategien artikulieren sich sehr variantenreich über eine simple Erzählstruktur. Gute Geschichten stellen einen Helden vor, der durch einen Konflikt muss. Dieser Konflikt wird auf eine ganz eigene Art gelöst und am Ende gibt es ein Happy End.

Jede Marke schöpft aus dem Reservoir kollektiver Sehnsüchte und repräsentiert eine individuelle Lösungsstrategie eines oder mehrerer Gründer. Darin liegt die stabile und zeitlose Quelle jeder Markenbestimmung.So erzählte mir ein Werbeverantwortlicher eines großen Logistikkonzerns die Gründergeschichte. Mit Stolz und Leidenschaft berichtete er, wie der Gründer mit seiner technischen Innovation bei seinem Arbeitgeber mit den Worten „Das braucht keiner!“ gescheitert war. Daraufhin gründete er eine eigene Firma und machte aus seiner Idee einen neuen, globalen Standard. Eines seiner Credos war die offene Tür zu seinem Büro. Und jeder Ingenieur mit einer Idee bekam zu hören „Mach mal“. Nur wenige Minuten vorher hatte mir dieser Werbeverantwortliche gesagt, er hätte ja nichts Publikumsrelevantes zu erzählen.

Um an solche Schätze zu gelangen, lohnt sich eine tiefe Auseinandersetzung mit den Wurzeln von Unternehmensgeschichten. Fündig wird man aber auch, wenn man Mitarbeitern genau zuhört. Worauf ist man besonders stolz? Worüber wird gelacht? Wovor hat man Angst? Sobald die individuelle Geschichte einer Marke offen daliegt, lässt sich diese facettenreich und kreativ weitererzählen. Immer da und immer anders. So entstehen lebendige Mythen, die Menschen einander näher bringen, und starke Marken, die sich selbst treu bleiben, ohne langweilig zu werden.

Wer in die Zukunft der Kommunikation schauen möchte, wird bei der Game-Industrie spannende Hinweise finden. Hier arbeiten Autoren, Drehbuchschreiber, Gestalter und Programmierer zusammen. Ein gutes Ergebnis ist bestimmt „Heavy Rain“ (PS3, Sony). Dieser düstere Thriller ermöglicht die Einnahme unterschiedlicher Charaktere, die je nach Spielerentscheidung unterschiedliche Geschichtsverläufe evozieren. Auf diese Art und Weise entstehen eigene Geschichten in der Geschichte. Über der Geschichte von „Heavy Rain“ steht sinngemäß die Frage: „Wie weit würdest du gehen für jemanden, den du liebst?“ Hier verbindet sich Tiefe, Spielengagement, Gestaltungsmöglichkeit zu einer dichten Erzählstruktur.

Das lässt sich nicht so häufig über eine Markenkommunikation sagen. Im Storytelling stecken viele, noch ungenutzte Ressourcen, um sich einer Marke inhaltlich zu nähern und um diese involvierend nach außen zu tragen. Ich freue mich auf eine lebendige Diskussion um das Thema und auf spannende Beispiele, die da noch kommen werden.

 

 

Foto: “Thats my pencil” | novemberhase | photocase.de

 

 

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