Von Social Müdia zum Social Capital

Social Media ist ein organischer Bestandteil unseres Lebens, jeder vierte deutsche Internetnutzer hat ein Facebook-Profil. Von naiver Begeisterung kann dabei aber längst nicht mehr die Rede sein. Wir wissen um Datenlücken und Shit-Storms. Und manche wissen sogar, wie man sich im Gefahrenfall souverän verhält.

Von Christina Keller, Senior Strategic Planner, und Thilo Ritz, Head of Strategic Planning, DDB Tribal Berlin

 

Ob Mensch oder Marke – wir sind Social-Media-konditioniert „as timeline goes by“. Reziprozität ist das neue Mantra. Wir sind, wenn wir teilen, geben, nehmen, zuhören, antworten. Schon Vordenker wie Pierre Bourdieu (1983) wussten, dass Interaktion und Kooperation belohnt werden. Das beschreibt Bourdieu mit dem Begriff des Sozialen Kapitals, der er definiert als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen, gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sein können“. Demnach besteht die erwähnte Belohnung, die Rendite des Sozialen Kapitals, in den Währungen Aufmerksamkeit, Zeit oder geldwerten Vorteilen.

Der kleine Unterschied zwischen Soziologie-Lehrbuch und dem Kommunikationsalltag heute: Abstinenz von der sozialen Teilnahme ist keine Option. Zu groß ist die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen bzw. in Abwesenheit unter die sozialen Räder zu kommen, zu präsent der Schlachtruf: „Der Dialog dort draußen findet statt, ob Sie wollen oder nicht, besser, Sie sind dabei!“

Die Mehrheit der Menschen und Marken akzeptiert das und mischt inzwischen mehr oder weniger aktiv mit. Es gilt, Ideen mit einem hohen Share-Value zu kreieren. Demnach werden Inhalte geschaffen, die nützlich, unterhaltend oder inspirierend sind und somit möglichst weit rumkommen. Das angestrebte Ergebnis sind Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Marken wollen darüber hinaus die Markensympathie und die Kaufwahrscheinlichkeit ihrer Produkte erhöhen.

Nach zwei Jahren gefühltem Social-Media-Mainstream ertappt man sich vermehrt dabei, mal eine Mitmach-Auszeit herbeizusehnen. Jeder User hat mittlerweile eine individuelle Social-Media-Strategie entwickelt, die banalerweise mit den richtigen Passwörtern beginnt, darin besteht, den richtigen Mitgliedern zu folgen und falsche Freunde zu meiden, Re-Posts zu unterlassen und – in Abhängigkeit vom individuellen Social Graph – mehr oder weniger tiefe Einblicke zu gewähren.

Erste Social Müdia tritt ein. Kein Wunder, Überfluss führt bekanntlich zu Abstumpfung und Filterverhalten. Fast ein Drittel aller jungen Konsumenten bezeichnet sich inzwischen als gelangweilt von den sozialen Netzwerken, Menschen und vor allem Marken werden entliked. Wir beginnen über Zeitaufwand vs. Qualität zu debattieren. Darüber, dass ‚dabei sein‘ eben doch nicht alles ist. Kurzer Flashback: Begann due Debatte um den Stellenwert von TV und TV-Werbung nicht ähnlich?

 

Alte Erfolgsprinzipien in neuen Umfeldern?

Unser Einloggen, MItmachen, Kommentieren, also unser Handeln und Entscheiden wird wieder stärker ökonomisch abgewogen und es regt sich der totgesagte ‚Homo Oeconomicus‘ in uns. Ein Umfeld, das in Überangebot zerfasert, wird vom Prinzip „Aufmerksamkeit§ (Georg Franck) regiert: Auch im Zeitalter der Mitmacher gehört diese Aufmerksamkeit den Sichtbarsten und Aktivsten. Dabei gilt es, anders zu sein als alle anderen und die eine, zündende Idee zu haben. Oder – und das können meist eben nur Marken – viel Geld in die Hand zu nehmen. Spektakuläre Umsetzungen, prominente oder frequente Platzierungen, Drive-to-Budgets kosten ihren Preis.

Beobachten wir nicht gerade die Verlagerung des Aufmerksamkeitskriegs der Marken auf unser neues, allseits beliebtes Spielfeld? Blicken wir noch durch den Social Clutter? Durchschauen wir noch den unkontrollierten Anstieg ‚fauler‘ Versprechen und Angebote?

Experten prognostizieren, dass sich die Prinzipien der (Auftrags-)Kommunikation durch die Digitalisierung erst mittelfristig eklatant verändern werden. Was wir heute punktuell unter Targeting erleben, wird in 10-20 Jahren unseren Alltag dominieren: personalisierte, ortsunabhängige, maßgeschneiderte Werbe- und Entertainment-Angebote. Wo TV nie genau weiß, wer gerade wo zusieht, zappt oder Kaffee holen geht, machen User-Klicks die (soziale) digitale Welt zum wasserfesten Himmelreich der Datenspezifikation. Präzision statt Reichweite, nicht der Lauteste gewinnt – sondern der, der in der richtigen Sekunde das perfekte Angebot ausspricht. Klingt gut. Ist aber eben noch Zukunftsmusik.

 

Marken müssen soziales Kapital verwalten helfen

Um weiter zukunftsfähige Beiträge im Social Web zu leisten, müssen Marken zunächst akzeptieren, dass der digitale Mensch primär diesen Handlungs- und Entscheidungsmustern folgt; während der Stellenwert von Likes stetig abnimmt, steigt das Erfordernis wahrlich bedeutungsvoller Angebote (Relevanz!) und eines sozialen Zeit-Managements (Effizienz!). Also reziproke und ökonomische Aspekte.

Die reziproke Seite des digitalen Menschen zielt darauf ab, persönliches Prestige im ausgewogenen Austausch mit anderen zu erhöhen. Dieser Vermögensaspekt des Sozialen Kapitals wird immer strategischer verfolgt. Dabei sind herausragende TV-Spots/Virals oder ein wirklich skurriles Webgame nach wie vor valide Möglichkeiten für eine Marke sich einzubringen. Ideen müssen aber sehr viel stärker in einer neuen Dimension bestehen: der „Bedeutsamkeit“.

Wie „lange“ ist eine Idee? Bei durchschnittlich sieben Likes, die eine Facebook-User pro Tag tätigt, geht es darum, mit Angeboten nicht nur einmal, sondern wiederholt Wert zu stiften. Mit Ideen, die wie eine soziale Währung langfristig das Kapitalwachstum des Einzelnen stimulieren.

Ein prominentes Beispiel hierfür ist Instagram, die Foto-Sharing-App für das iPhone. Sie lässt nicht nur die Fotos jedes Hobbyknipsers professionell aussehen. Jeder von uns sieht Foto für Foto, dank Instagram sehen sie auch viel besser aus als in der Realität. Und mit einem Klick landet der Schnappschuss auf einer der vielen Social-Plattformen, um geliked und kommentiert zu werden. Eine Erfindung, die zu schön und zu social ist, im sie jemals wieder aufzugeben.

Zugleich kommt die ökonomische Seite des Menschen wieder ins Spiel, die danach strebt, das wachsende Soziale Kapital bestmöglich zu verwalten, das eigene Soziale Kapital zu kontrollieren. Die digitalen Menschen bringen sich dieses haushalterische Denken und Handeln gerade selbst bei, je nativer, desto leichter.

Inmitten der sozialen Wogen, die an Konsumenten hin schwappen, können sie ‚Effizienzbringer‘ werden. Und Menschen dabei helfen, ihr unübersichtlicher werdendes Umfeld zu filtern, zu personalisieren, zu regulieren.

Zu diesen ‚Oeconomicus Tools‘ zählen zum Beispiel Social-Media-Dachboards wie HootSuite oder Netvibes, die verschiedene Social Streams der Menschen bündeln. Oder auch Applikationen wie Flipboards, die zerstreute Blogeinträge und Newsfeeds aus verschiedenen Quellen auf dem iPad in ein und derselben ästhetischen Magazin-Oberfläche darstellen. Diese Beispiele sind nur ein Anfang, eine erste Antwort auf die noch leisen Hilfe-Rufe des Homo Oeconomicus. Warum kommen diese Services noch nicht von Marken, die per se nicht als Technologie-Marken auftreten?

Um in Zukunft zum Wachstum oder der Ökonomisierung des Sozialen Kapitals der Menschen beizutragen, müssen Marken ihr Selbstverständnis ändern. Wer ist bereit, über kurzfristige Marketing-Budgets hinwegzudenken, um jenseits konkreter Marketingpläne neue Angebote von Bestand zu schaffen? Wer traut sich, Exklusivität aufzugeben und als Marke in alle Richtungen zu kooperieren? Nicht nur mit den Konsumenten, sondern eventuell auch mit der Konkurrenz, mit verwandten Marken und Dienstleistern? Und das alles zum Wohle der überforderten Konsumenten?

Wer wird wohl der erste Reiseanbieter sein, der auch ein und derselben Plattform Last-Minute-Angebote hinter Facebook-Reise-Bilder schaltet, National-Geograpie-Reportagen integriert und zugleich digitale Mediationskurse für die Daheimgebliebenen anbietet? Es bleibt reziprok und ökonomisch, es bleibt spannend.

 

 

Foto: „Auszeit“ cydonna | photocase.de

comments powered by Disqus