Sokrates 2.0

Mit der Verbreitung von Smartphones begleitet uns das Internet überall – und damit der permanente Zugang zu allen Informationen. Aber können wir mit einer wachsenden Menge an Informationen auch unser Wissen ausbauen? Ein Plädoyer für mehr Informations-Pausen  zugunsten von Denk-Phasen.

Von Melanie Peschel, bilekjaeger, Stuttgart

 

Szenen aus dem Alltag eines Kopfarbeiters, auch Strategischer Planer genannt: Auf dem Weg ins Büro ist der Blick aufs Smartphone gerichtet. Wie praktisch ist es doch, quasi 24 Stunden den Posteingang im Auge zu behalten und nichts zu verpassen. Die paar Newsletter, die über Nacht verschickt wurden, sind schnell überflogen. Wechsel zur Facebook-App: Auch hier hält sich die Menge an Neuigkeiten in Grenzen seit dem letzten Check vor etwa acht Stunden. Das Gleiche gilt für Google+, die RSS-Feed -App und Twitter. Wobei bei Letzterem die Menge an Neuigkeiten etwas umfassender ist – ein Tweet ist nun mal die kleinere Informationseinheit gegenüber dem Facebook-Post. Jetzt noch die n-tv-Meldungen durchscrolIen und zum Schluss ein Klick auf die Stuttgarter-Zeitung-App.

Ein Blick zu den anderen Pendlern zeigt: Ich bin nicht alleine – mindestens 50 Prozent geht es genauso. Und heimlich auf die Displays gespickelt bestätigt: Wir bewegen uns alle auf ähnlichen Informationsportalen – allen voran Facebook und die Apps der Nachrichtenseiten. Der ein oder andere schreibt eine SMS, manche spielen einfach. Fest steht: Die Menge an Informationen, die in einem Zugabteil morgens unter der Woche konsumiert wird, ist in den letzten zwei Jahren unglaublich gewachsen – parallel mit dem Besitz eines Smartphones, dessen Verbreitung seit 2010 exponentiell gestiegen ist.

Ist die Menge an konsumierten Informationen also gewachsen? Quatsch – die ist doch gleich: Es gab früher eben mehr Zeitungsleser, die heute aufs Smartphone umgestiegen sind. An dieser Stelle setzt die Diskussion an: Ich glaube, dass Smartphone-Heavy-User mehr Informationen konsumieren als Zeitungsleser, aber meist weniger Wissen generieren. Und ich glaube auch, dass (Qualitäts-)Zeitungsleser mehr Wissen generieren und weniger Informationen aufnehmen. Ich selbst als Heavy·Smartphone-User habe immer mehr den Verdacht, dass wir Kopfarbeiter Strategien entwickeln müssen, um künftig nicht an den Informationsbruchstückchen zu ersticken, sondern mehr Mut zur Lücke beweisen und mal ein paar News an uns vorbeisausen lassen sollten – zugunsten einer Denk-Phase, in der neues Wissen entstehen kann.

 

Unterschied zwischen Information und Wissen

„Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß.“ Das geflügelte Wort von Sokrates ist ein guter Denkanstoß. Platon, der Sokrates zitiert und so dessen Gedanken über Wissen und Nichtwissen überliefert, schreibt über die Entwicklung der eigenen Erkenntnisse, philosophiert über Scheinwissen und bezeichnet das Bewusstsein über das Nichtwissen als einen ersten Schritt zur Weisheit, die er definiert als das Wissen darüber, was gut und böse ist.

Welch schöne Parallelen zur Welt der strategischen Planung sind hier zu finden: Beim Planning geht es auch darum, Insights zu finden, d.h. Erkenntnisse über den Markt, die Zielgruppe, das Konsumentenverhalten. Diese lnsights können nicht gegoogelt werden, da es sich weniger um Fakten handelt, sondern um Erkennhlisse, die aufgrund genauer Beobachtung entstehen oder aufgrund intelligenter Kombination von Fakten, Informationen und Beobachtungen. Auch Sokrates hat sich nicht mit dem Vordergründigen zufriedengegeben, sondern hart nachgebohrt, ist den Dingen auf den Grund gegangen und hat sich immer wieder aufs Neue gefragt, ob seine Gedanken richtig oder falsch sind, ob er auf dem Weg zur Weisheit ist oder sich noch im Terrain des Scheinwissens befindet.

Die Kunst ist, Relevanz von Irrelevanz zu unterscheiden. In den Facetten reichen Aufgabenstellungen der strategischen Planung geht es meist weniger um die Erkenntnis von Gut und Böse als um das Finden von relevanten und das Ausfiltern von irrelevanten Informationen sowie das durch intensives Nachdenken entstehende Wissen. Die Ablösung von Scheinwissen zugunsten echten Wissens. Ein Wissen, das vor dem Denkprozess auch schon da war, aber noch nicht ausgesprochen oder ausformuliert auf dem Tisch lag. Ein Wissen, das jedem sofort einleuchtet – egal ob Kreativer, Kunde oder Kundenberater. Ein Wissen, das uns weiterbringt und nicht ins vordergründige, aufgesetzte Klischee dirigiert und so irrelevante Werbung entstehen lässt. Den Job des Planners heute neu zu betrachten und bewusst über die veränderten Möglichkeiten und Arbeitsprozesse nachzudenken, ist wichtig, da sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren stark verändert haben. Junge Planner kennen nichts anderes als eine Welt mit Internet und permanentem ‚On-Status‘. Für sie ist es unvorstellbar, auch ohne Web zu arbeiten. Wenn das Internet für ein paar Minuten nicht zur Verfügung steht, macht es schnell die Ru nde: Wir können grad nicht weiterarbeiten. Umgekehrt formuliert: Viele Kopfarbeiter sehen den Informationszugang via Web als zwingende Voraussetzung für ihre Arbeit – und machen sich so stark davon abhängig, dass schon kurzfristige Abnabelungen vom Informationsarchiv der WW·Welt zu einem geführten Fall ins scheinbar Bodenlose führen.

 

Wissen wiegt schwerer als Informationen

Arbeiten tun nicht nur die, die auf den Bildschirm starren. Es kann auch Arbeit sein, wenn jemand aus dem Fenster schaut oder mit geschlossenen Augen dasitzt. Zugegebenermaßen ist das aber in den agenturtypisch offenen Büros mit Glasflächen kaum möglich. Witzig gemeinte, aber wenig hilfreiche Kommentare von Kollegen durchbrechen solche Versuchsmomente der Konzentration und Abkehr von der Informationsaufnahme zugunsten der Wissens-Generierung. Manche Agenturen haben bereits reagiert und bieten sogenannte Think-Tanks an – Räume, oft sogar ohne Licht und ohne Fenster, in denen man sich zurückziehen kann für eine Denk-Phase. Aber die Anzahl der Think-Tank-Räume in Deutschlands Agenturen ist vermutlich überschaubar. Ein weiterer Weg, um Wissen entstehen zu lassen, kann darin bestehen, Auszeiten für Facebook, Twitter und Co. zu verhängen. Die sollte aber jeder individuell für sich definieren und Zeitpunkt und Umfang selbst bestimmen können. Eine Anregung solcher Auszeiten oder eine regelmäßige ‚Kontrolle‘ in Form von Feedback-Gesprächen kann allerdings helfen, solche informationsfreien Stunden oder gar Tage tatsächlich zur Regel zu machen. Vielleicht zugunsten der Erstellung einer Mind-Map mit Papier und Stift?

Der Management-Berater Achim Feige berichtet in seinem Buch ‚BrandFuture‘ darüber, dass inzwischen das Informationszeitalter durch das sogenannte kreative Zeitalter abgelöst wurde. Dabei sei das kreative Zeitalter dadurch definiert, dass immer mehr Menschen ihr Leben durch ‚Self·Design‘ prägen, durch den individuellen Mix des Müslis auf mymucsli.de oder das Design von Schuhen wie mit NIKEiD. Aber ein Blick in den Alltag der Kopfarbeiter zeigt: Viele sind noch zu großen Teilen ihrer Arbeitszeit gefangen im Informationszeitalter: Sie sammeln und produzieren wie am Fließband Infobruchstücke, sortieren bestmöglich, tun immer neue, optimierte Kanäle auf, filtern dank Facebook, Twitter, Google+, Pinterest etc. die für sie scheinbar relevanten Informationen – und merken dabei gar nicht: All das Sammeln, Sortieren und Senden führt am Ende doch nicht zum gewünschten Mehrerwerb an Wissen. Die angeblichen Insights sind oft nichts anderes als gegoogelte Informationen oder Fakten, die nur vordergründig interessant erscheinen. Mit Sokrates gesprochen: Nichts anderes als Scheinwissen.

Aus dem Dilemma kommt nur heraus, wer auch mal Mut zur Lücke beweist. Zumal die Informationsaufnahme sich ähnlich darstellt wie das Spiel mit den Tennisbällen: Bekomme ich fünf Bälle zugeworfen, werde ich wahrscheinlich am Ende gar keinen fangen – Information Overload. Konzentration aufs Wesentliche heißt die Erfolgsformel. Möglicherweise handelt es sich hier um einen Insight: Für jeden einleuchtend und nicht erklärungsbedürftig – aber dennoch heute keine Selbstverständlichkeit mehr.

 

 

Foto: madochab | photocase.de

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