Sustain the Mission, secure the Future

Das Leiden der Werbebranche an der Nachhaltigkeit – und umgekehrt.

Von Dr. Stefan Hermann Siemer, Ambulanz für neue Kommunikation, Lüneburg

 

„Sustain the Mission – Secure the Future“. So heißt die Nachhaltigkeitsstrategie der United States Army. Wirklich wahr. Und diese Truppe ist nicht für Ironie bekannt. Irgendetwas hat sich geändert. Banken beispielsweise, die über Jahre mit riskanten Finanzgeschäften riesige Gewinne einfuhren, müssen ihr Geschäftsmodell derzeit gründlich revidieren – wenn sie es denn können. Auch Jürgen Steinemann, Chef des weltgrößten Schokoladenproduzenten Barry Callebaut, stellt fest: „Wir merken, dass nachhaltige Produkte tatsächlich nachgefragt werden. Das Thema bekommt Flügel.“

„Das Thema“ ist allgegenwärtig. Unzählige NGOs engagieren sich, fast jedes große Unternehmen beschäftigt ganze Abteilungen im Zeichen von Corporate Social Responsibility (CSR) etc. Auch die Kundenwünsche an Fairtrade, Hühnerglück und Klimaschutz wachsen. Und es sieht ganz danach aus, dass dies Anzeichen sind für eine langfristige gesellschaftliche Transformation. Genug Gründe also, um die Gretchenfrage zu stellen: Nun sag‘ Werbebranche, wie hast du’s mit der Nachhaltigkeit?

 

Dazu sechs Thesen.

1. Die Werbebranche steht ziemlich blank da.
Sie droht schlicht den tiefgreifenden Wertewandel zu verschlafen. Dadurch verliert die Branche zwei Säulen ihrer Existenzberechtigung: erstens den letzten Rest ihrer gesellschaftlichen Reputation und zweitens ihre fachliche und ethische Satisfaktionsfähigkeit gegenüber ihren Kunden. Diese Kunden sind nämlich meist schon viel weiter und schrauben ihre Ansprüche hoch. Genauso wie viele einzelne Agentur-Mitarbeiter, die sich fragen, welchen Sinn ihre Arbeit jenseits von Kreativ-Awards und Reichweite macht. Es gibt Ausnahmen unter den Agenturen, die die Regel bestätigen. In der Breite herrscht Desinteresse, also business as usual.

 

2. Die Werbebranche hat ein immanentes Problem mit der Herausforderung nachhaltiger Entwicklung.
In der Millionenmetropole Sâo Paulo ist Werbung im öffentlichen Raum seit 2007 weitgehend verboten, über zwei Drittel der Bevölkerung unterstützen das Verbot. Warum wollen diese Menschen keine Werbung? Was wissen sie über Werbung? Und warum haben Werber ein Abo auf die letzten Plätze im Imageranking der Berufe? Vielleicht deshalb, weil viele Wirkmechanismen von Werbung – Auffallen, Penetrieren, Stören, Verführen, Manipulieren – als übergriffig, unlauter und damit nichtnachhaltig decodiert werden. Und vielleicht, weil die ökologischen und sozialen Kollateralschäden maßlosen Konsums selbst Otto Normalverbraucher längst bewusst sind. Genauso zeugen die stereotypen Abwehrreflexe der Branche bei verschärfter Regulierung (gestern Alkohol, heute Tabak, morgen Daten, Zucker, Fleisch Lind Autos) eher von argumentativer Armut als von einer souveränen Verteidigung sinnvoller Freiheitsrechte. All dies spielt auch eine Rolle, wenn der beste Nachwuchs lieber in anderen Branchen anheuert.

 

3. Es gibt aus den Agenturen vereinzelte Ansätze, aber das ist noch kein abendfüllendes Programm.

Was auf breiter Front fehlt, sind Antworten: Welchen wichtigen Beitrag leistet die Branche zu einer besseren Welt? Wie wird Nachhaltigkeit im Kerngeschäft in den Agenturen verankert?

Zwei zentrale Pain Points wären:

  • Wenn die Kampagnen für meinen Kunden großen Erfolg haben: Ist das für Umwelt und Gesellschaft besser oder schlechter?
  • Wie werden meine Mitarbeiter behandelt? Wie sieht ee aus mit Karriere- und Qualifikationsmöglichkeiten, bezahlten Überstunden, Familienkompatibilität usw.?

Ein bisschen tut sich jetzt – krisenbedingt. Zurzeit kommen aus der Branche starke Impulse, allerdings oft als Selbstbashing – prototypisch dafür Kolle-Rebbe-Kreativer Sascha Hanke oder immer wieder gern und hart DDB-Chef Amir Kassaei. Gesitteter präsentiert sich ]ean-Remy von Matt und kündigt die Gründung einer Stiftung an, die in Nachwuchsarbeit und Qualifikation der Mitarbeiter investiert. achtung!-Inhaber Mirko Kaminski weist in seinen Videobotschaften auf relevante Missstände hin. Das ist aber noch kein Masterplan. Was fehlt, ist die durchgängige Berücksichtigung dieser Haltung in der täglichen Arbeit, die Verankerung im Kerngeschäft. Und hier gilt wieder These l: zu viel business as usual.

 

4. Die Werbebranche könnte einen essenziellen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten (und weiterhin viel Geld verdienen).

Werbung wirkt. So stark, dass es ohne Werbung wohl nichts wird mit Sustainability Mainstreaming. Denn es geht um Veränderungen im konventionellen Massenmarkt und daher um effektive Massenkommunikation, um große Kampagnen. Werbung kommt also eine systemrelevante Rolle bei dem „Thema“ zu.

Hinzu kommt: Die Branche sägt am eigenen Ast. Eine der wichtigsten Ursachen der aktuellen Rezession, die auch unseren Werbemarkt treffen wird, ist nicht-nachhaltige Wirtschaftspolitik. Die Werbebranche ist also Verursacherin und Betroffene zugleich.

Gegen diese Verstricktmgen gibt es kein Allheilmittel, aber zwei Basiskompetenzen werden auf jeden Fall unerlässlich sein. Einerseits fundiertes Fachwissen, wie Kommunikation im Zeichen der Nachhaltigkeit funktioniert. Andererseits eine reflektierte Haltung und Diskursfähigkeit.

 

5. Die Werbebranche muss das Handwerk der Nachhaltigkeits-Kommunikation beherrschen: Sustainability Branding zwischen Aufklärung und Kitsch, zwischen Greenwashing und Missionseifer.

Hier eine Auswahl möglicher Fragen, mit denen sich jeder Werber auseinandersetzen muss, wenn er und sie in Zukunft Erfolg haben will:

  • Wie funktionieren die Sprach- und Bildwelten, wie ist das Look-and-feel der Nachhaltigkeit?
  • Wie briefe ich die Kreativen angesichts stark limitierter Erwartungshaltungen in diesem Genre? Wie kann ich jenseits des grünen Kitsch-Idyllen-Einerleis das Harmoniebedürfnis und die Heile-Welt-Sehnsucht des Publikums stillen?
  • Wie bringe ich Sekundärtugenden der Nachhaltigkeit wie Langlebigkeit, Effizienz, Standorttreue oder Fairness zur Geltung?
  • Wie kann ich Nachhaltigkeit als Markentreiber einsetzen? Wie identifiziere ich diejenigen Themen und Handlungsfelder des unternehmerischen Engagements, die zur Profilierung und Differenzierung geeignet sind und nach kommunikativer Inszenierung verlangen?

 

6. Die Werbebranche braucht mehr Haltung und ein professionelles ethisches Selbstverständnis.

Komplementär zum Handwerk ist Diskursfähigkeit gefragt. Hier geht es nicht um naive Gutmenschlichkeit. Es geht um das eigene Rollen-Verständnis, um die eigene CSR in Wort und Tat, um claslnfragestellen des eigenen Nutzens, um Ächtung des Zynismus, um Wiedergewinnung der Navigator-Funktion, um eine Position zu Fragen wie: Welche Art von Werbung und wie viel verträgt eine Gesellschaft, die sich nachhaltig entwickeln will?

 

 

Foto: „Sustainability“ | arlec | photocase.de

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