Was wir von Start-ups lernen können.

Von Liane Siebenhaar, freie Strategische Planerin  

 

Vor sechs Monaten kündigte ich meinen Job. Um mich auf ein neues Abenteuer einzulassen. Ein neues Projekt. Ein neues Land. Eine neue Sprache.
Chile!

Warum ausgerechnet Chile?

Nun ja. In Chile gibt es ein staatliches Programm namens Start-up Chile. Es fördert Jungunternehmer mit 40.000 Dollar Startkapital und hilft ihnen mit einem breiten Netzwerk, ihre Unternehmensidee zu implementieren.

Und ich? Ich wurde mit einer Konzeptidee dort akzeptiert.

Innerhalb der letzten sechs Monate habe ich also eine E-Commerce-Seite aufgebaut, auf der man nach Volunteer-Travel-Paketen suchen kann. Ich habe ein „Minimum Viable Product“ (MVP) entwickelt, Partnerschaften mit 15 Organisationen geschlossen, 3.000 Trips aus aller Welt hochgeladen, 5.000 Besucher generiert – und ganze 72 Cent Umsatz gemacht …

 

Richtig – der wahre Wert der ganzen Start-up-Erfahrung liegt in meinen Learnings, die ich im Verlaufe des letzten halben Jahres gesammelt habe. Und diese Learnings möchte ich mit euch teilen.

 

1. Vermarkte dein eigenes Projekt.

Der größte Lernprozess bei Start-up Chile war es, ein eigenes Produkt von Grund auf zu entwickeln. Ich kann jedem Werber empfehlen, dies auch zu tun. Denn egal ob Online-Shop, soziale Community oder Online-Magazin – bei dem Versuch, sein eigenes Ding aufzubauen und es zu vermarkten, übt man einen holistischen Unternehmerblick und macht sich Gedanken über Bereiche und Herangehensweisen, über die man sonst nie nachdenken würde. Vom Geschäftsmodell über Sales-Strategien bis zum Marketing-Mix. Und mit geringstem Marketing-Budget lernt man dann plötzlich die Kraft anderer Methoden kennen: Search Engine Optimization (SEO) und Keyword-Strategien, PR und Blogger-Outreach-Programme, Search Engine Marketing (SEM) und Social-Media-Vermarktung. Erfahrungen, die man als Referenzwerte verwenden kann und die nützlich bei der Kundenberatung sind.

 

2. Nutze existierende Ressourcen.

Während ich früher auf teure Fortbildungen und Messebesuche gepocht habe, musste ich in meiner Zeit als Start-up mein Wissen und Skillset mit geringsten finanziellen Ressourcen erweitern. Das Gute: Die Start-up Community ist überaus offen und hilfreich. Und das Besondere bei Start-up Chile sind die sogenannten „Tribes“: Informelle Arbeitsgruppen, die sich regelmäßig treffen, um Wissen zu bestimmten Themen auszutauschen. Egal ob Design, Tech, E-Commerce, Marketing oder Finance. Jeder hat einen anderen Background und kann zu verschiedensten Themen einen Mehrwert beitragen. Dabei hilft jeder jedem, auch wenn er selbst nichts dafür bekommt. In vielen Werbeagenturen liegt breites Wissen brach. Zwar gibt es bereits Initiativen zum Wissensaustausch – doch häufig sind diese silohaft, schlecht getimed oder nicht jeder hat das Privileg, daran teilnehmen zu dürfen. Eine Eigenorganisation, die durch engagierte „Tribe-Leader“ und einem Punktesystem gefördert würde, könnte erheblich zum internen Austausch beitragen. Darüber hinaus gibt es praktische Seiten wie zum Beispiel skillshare.com, auf denen man zu fast allen Bereichen einen guten und günstigen Kurs findet. Die meisten Kurse sind online zeitlich flexibel einteilbar. Meine Skillshare-Favoriten: PR von Erica Swallow, Digital Strategy von Julian Cole und One Month Rails von Mattan Griffel.

 

3. Be out of the box.

Die Zeit hier hat mir gezeigt, dass man nicht nur „out of the box“ denken, sondern es auch sein sollte. Sei es auf Meet-ups, Vorträgen oder Hackathons – in der Entrepreneur Community lernt man die interessantesten und unterschiedlichsten Menschen kennen. Und schätzen. Produkt-Designer, NASA-Mitarbeiter, Nano-Biologe oder 3-D-Spezialist. Alle haben eine einzigartige Perspektive auf ein bestimmtes Problem oder eine bestimmte Idee. Und genau diese Perspektiven helfen weiter, seine eigenen zu schärfen und zu verbessern. Die Seite meetup.com hilft, Netzwerk-Events in jeder größeren Stadt zu finden. Eine andere Anlaufstelle sind Hackathons wie angelhack.com, auf der man als Werber auch teilnehmen und die Rolle des „Hustlers“ einnehmen kann.

 

4. Stell dich der Kritik.

Als Start-up verinnerlicht man das Lean-Start-up-Prinzip. Es besteht aus schneller Iteration folgender Elemente: Build, Measure, Learn, Build, Measure, Learn usw. Fehler zu machen, ist vorprogrammiert. Ein perfektes Produkt herauszubringen, ist nicht das Ziel, sondern ein minimal akzeptierbares schnell zu testen und noch schneller zu verbessern. Durch die Geschwindigkeit der Iteration werden Fehler schneller behoben und das Produkt im Sinne des besten Consumer Benefits verbessert. Eine Eigenschaft, die mir bei fast allen Entrepreneuren aufgefallen ist, ist ihr Mut, im Sinne des Lean-Prinzips, Kritik einzufordern und über seinen Schatten zu springen. Der Mut zur offenen Kritik, sei es über eine Strategie oder eine Kreationsidee, sowie eine Diskussionskultur, die es verlangt, aus Fehlern zu lernen, fördert wahre Kollaboration, eine schnellere Produktentwicklung und letztendlich bessere Lösungen. Auch in der Werbung.

 

5. Werde T-Shaped.

Im Start-up muss man an allen Unternehmensbereichen mitarbeiten. Die besten Team-Mitglieder sind Menschen, die neben ihrem Fachbereich über ein breites Wissen verfügen und sich so in verschiedenste Probleme hineindenken und mit dem Rest des Teams kollaborieren können. Als Stratege lohnt es sich zum Beispiel, programmieren zu lernen. Empfehlenswert: One Month Rails von Mattan Griffel oder CSS und HTML auf codecademy.com. Das Resultat: Man versteht die groben Funktionsweisen verschiedener Programmiersprachen, bekommt ein Gefühl für Umsetzbarkeit und Timings. Und spricht dieselbe Sprache mit Digital-Partnern, wenn es bei einem Kundenprojekt darauf ankommt. Und das Beste: Man kann seine eigenen Ideen einfach selbst schnell umsetzen und demonstrieren. Und natürlich sollte nicht nur jeder Stratege einen Sinn für Programmierung, Design und Ideen haben, sondern auch jeder Kreative ein Gespür für eine gute Strategie.

 

6. Date dein Team.

Als Start-up ist man auf ein kleines feines Team an smarten Köpfen angewiesen. Nicht nur das Fachliche, sondern auch das Menschliche muss stimmen. Es ist das Schwierigste und das Wichtigste für ein Start-up – und auch für eine Agentur –, die richtigen Leute mit passenden Kenntnissen zusammenzustellen. Und es braucht eine lange Zeit des Datens, um den oder die Richtige zu finden. Ein wichtiger Recruiting-Insight der Start-up-Szene: Es gilt die Menschen zu finden, die man nicht managen muss, sondern die selbst wie Gründer denken, sich selbst proaktiv sinnvolle Aufgaben suchen und sich somit quasi selbst führen.

 

7. Just do it.

Eines meiner wichtigsten Learnings der letzten sechs Monate ist es, seine Ideen einfach umzusetzen. Es ist erstaunlich, was man alles erreichen kann, wenn man es nur einmal macht. Als Werber hat man die Tendenz, sich folgende Fragen zu stellen: Ist meine Idee einzigartig genug? Und was, wenn hinterher keiner mitmachen will? Wie steh ich vor meinem Boss dann da? Und schon lässt man sein Extraprojekt, seine Agentur- oder Kundenidee links liegen. Als Start-up hat man gar keine andere Möglichkeit, als über seine Grenzen hinauszugehen und das Risiko einer Abfuhr zu riskieren. Es geht ums Überleben und damit ist man proaktiver denn je, jagt Leuten hinterher, packt Dinge beim Kragen, versucht andere für sich zu begeistern und setzt Ideen ganz einfach um. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass jemand mit etwas Besserem um die Ecke kommt und es für einen macht. Außer vielleicht der Wettbewerb.

 

8. Arbeite mal vom Bett aus.

Der tollste Start-up-Lifestyle-Aspekt ist die freie Zeiteinteilung und das Self-Management. Jeder braucht mal die Freiheit, Home-Office zu machen und aus dem Bett heraus zu arbeiten. Zeit, in Ruhe in der Badewanne über ein Problem nachzudenken oder einfach seine Wäsche zu waschen. Mal im Bett eine Präsentation schreiben macht produktiver, als seine Zeit sekundengenau im Office abzusitzen. Self-Management liegt natürlich nicht jedem. Aber wem es liegt, dem sollte die Freiheit gewährt sein, dies auch zu tun.

 

In diesem Sinne hoffe ich, dass ich euch einen guten Einblick in die Welt der Start-ups geben konnte und euer Interesse geweckt habe, selbst mal in die Szene hineinzuschnuppern. In Deutschland ist die Start-up Community zwar vergleichsweise klein, aber sehr offen und hilfsbereit. Es lohnt sich.

 

Ich freue mich über Fragen und Kommentare via @L7H oder www.lianesiebenhaar.com.

 

Foto: Eisenglimmer / photocase.com

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