Bitte gehen Sie nicht weiter, hier gibt es etwas zu sehen!

Von Sven Grammes, SYZYGY AG

 

Apples CEO Tim Cook lässt uns zappeln. Und das, obwohl Steve Jobs schon 2010 nach eigener Aussage die Zukunft des Fernsehens endlich geknackt hatte. Aber auch ohne das nächste revolutionierende Gerät hat sich das Fernsehen schon längst auf die Reise in die Zukunft begeben: angetrieben von den Möglichkeiten digitaler Technologien, den Anforderungen in der Post-PC-Ära und nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, bekommt das Fernsehen, wie wir es kennen, derzeit ein völlig neues Gesicht.

 

In den Fünfzigerjahren verlor das Wohnzimmer die Bedeutung als Mittelpunkt familiärer Kommunikation und der Fernseher entwickelte sich zum gemeinsamen Fluchtpunkt der Familie: das Sofa und die Sessel wurden in Blickrichtung des Apparats ausgerichtet, der fortan das Unterhaltungszentrum war.

Spätestens mit dem Durchbruch der Post-PC-Ära haben sich die Nutzungsmuster des Fernsehens aber radikal verändert; das Internet und neue Geräte haben zwei Entwicklungen den Weg geebnet. Erstens: Das mobile Fernseherlebnis ist Realität geworden; ich kann heute im Wohnzimmer, in der Küche, aber auch unterwegs in der S-Bahn Fernsehen erleben. Zweitens: Das Fernsehen von heute muss sich also in einer connected-atmosphere behaupten. Die parallele Nutzung von TV und Internet nimmt zu. Hintergründe zu Schauspielern werden recherchiert, auf Facebook wird über die Sendung diskutiert oder „Angry Birds“ werden auf dem Smartphone gespielt; im Vergleich mit den Möglichkeiten des Internets wirkt das lineare Fernsehen mehr als altbacken. Viele (auch deutsche) Sender testen derzeit mit ergänzenden Online-Angeboten und interaktivem Storytelling, aber noch ist die Konvergenz zwischen TV und Internet nicht mehr als Experimente.

Obwohl derzeit internetfähige Smart-TVs wie Pilze aus dem Boden schießen, wird es in Zukunft auf die relevante Vernetzung unterschiedlichster Geräte und Services ankommen, statt alle Angebote in einem einzigen Gerät zu bündeln. Einen anschaulichen Blick in die Zukunft hat SYZYGY mit dem GOAB-TV-Konzept entwickelt und Googles Chromecast verspricht die Vision tatsächlich in das heutige Wohnzimmer zu holen: der kleine USB-Stick verspricht der interaktive Kommunikationshub zu werden, der unterschiedlichste Plattformen und Geräte verknüpfen kann.

 

Ebenso wenig wie ein fixes Gerät wird es in Zukunft viel seltener einen fixen Fernsehzeitpunkt geben. Jahrzehntelang blieb das Fernseherlebnis unverändert abhängig von festen Sendezeiten; diese „alte“ Form des Fernsehens nennt Reed Hastings (CEO von Netflix) managed dissatisfaction: „The point of managed dissatisfaction is waiting. You’re supposed to wait for your show that comes on Wednesday at 8 p.m., wait for the new season (…) Waiting is dead!“ (New York Times)

Reed Hastings’ Netflix stellt das alte Modell aber nicht nur infrage, sondern entwickelt gleich ein neues: und das ist nicht weniger als eine Revolution. Dank des Streaming-Services von Netflix können seine Kunden ausgewählte Serien nun überall, zu jeder Zeit und vor allem auf einmal und sofort ansehen. Das sogenannte binge-watching ist die extreme Form davon, die Kontrolle über das Fernseherlebnis komplett an den Zuschauer abzugeben.

 

Netflix glaubt aber nicht nur daran, dass Zuschauer das Recht haben, Fernsehen zu schauen, wann und wo sie wollen. Das Unternehmen glaubt auch zu wissen, was die Kunden sehen wollen. Netflix sammelt viele Daten. Nur um die Größenordnung zu verdeutlichen: Das ursprüngliche Geschäftsmodell (DVD-Versand-Videothek) machte Hastings’ Unternehmen zum größten Kunden des US-Postservices, das Film-Streaming machte Netflix zur größten Quelle von Download-Verkehr in den USA. Das ist Big Data!

Wann werden welche Serien/Filme angeschaut? Welche Schauspieler sind am beliebtesten? Welche Szenen werden mehrmals angeschaut? Aus diesen Daten hat Netflix vor zwei Jahren herausgelesen, dass Filme von David Fincher oder mit Kevin Spacey zu den beliebtesten zählten. Statt nun einen Piloten drehen zu lassen, um den Erfolg anhand von Einschaltquoten messen zu lassen, ließ Hastings zwei komplette Staffeln „House of Cards“ für 100 Millionen US-Dollar produzieren – und landete damit einen Riesenerfolg.

 

In dieser Datenanalyse liegt auch eine der großen Herausforderungen und Chancen für uns Strategen und Marketer auf Unternehmensseite. Je stärker TV und Internet konvergieren, desto mehr Daten werden über die Zuschauer erhoben, desto besser werden Marketer ihre Kommunikation targeten können und wir Strategen können Zielgruppen noch besser verstehen.

Neue Metriken, die mehr messen als hochgerechnete Einschaltquoten, schaffen den Serien mehr Raum, sich zu entfalten und zu entwickeln: „(…) some day in the near future, a show’s tweetability may be just as crucial as the sheer size of its audience. It’s something that advertisers and networks already realize, albeit in a vague and unquantified way. But as Nielsen – and other analytics companies – race to capture a show’s true impact across all platforms, it will change the way those shows are valued.“ (Tom Vanderbilt, WIRED Magazine)

 

Darüber hinaus werden interaktive Elemente Online-Shopping und Web-Streaming noch enger verknüpfen und direkte Saleserfolge aus dem laufenden Programm heraus (?!) messbar und überhaupt möglich machen.

 

Noch funktioniert das lineare TV mit Werbepausen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Reichweite von Printmedien Jahr für Jahr weiter sinkt, bleibt das Fernsehen von heute das markenbildende Medium: Fernseh-Euros sind vor allem Marken-Euros.

Aber, und das ist die dritte wichtige Herausforderung, das lineare Fernsehen mit festen Sendeplätzen und Einschaltquoten wird in wenigen Jahren nicht mehr existieren. Heutige zaghafte transmediale Ansätze (beispielsweise der Hinweis auf die Facebook-Page am Ende des Werbe-Spots) werden dann nicht mehr funktionieren, wenn jeder Zuschauer sein eigener Programmchef ist, Reichweiten granularer werden und sich nicht mehr in große Jahreskampagnen integrieren lassen. Werden vorgeschaltete Spots die Zukunft sein, wie sie heute schon auf YouTube Standard sind? Ich hoffe es nicht.

 

Stand heute ist das Fernsehen aber noch ein gewohnt „einfacher“ Kanal für Marketer, der verlässlich Reichweiten bringt. In den nächsten 3 bis 5 Jahren wird sich das Wesen des Fernsehens aber so weit verändern, dass das heutige „Stillhalten und Abwarten“ vieler Marketingabteilungen ein Ende haben muss: denn die Hoffnung, dass Apple den gordischen Marketingknoten der Fernsehzukunft zerschlägt, kann trügerisch sein.

 

Die Zukunft des Fernsehens kann auf 1 bis 2 Seiten nicht erschöpfend behandelt werden, fühlt euch deshalb eingeladen, auf Twitter über #TVzukunft weiter zu diskutieren und diese Linksammlung für weitere Infos zu nutzen: http://tv-der-zukunft.tumblr.com/

 

Foto: goegi / photocase.com

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