Und jetzt bitte wieder zurück zur Realität

Drei Marketing-Hypes und warum sie sich doch nicht durchsetzen konnten.

Von Knut Riedel, freier Planning Director, Hamburg

 

Alle paar Monate hat die Marketing-Community ein neues Hype-Thema. Die Branchenpresse schreibt fleißig, neue Experten geben ihr Wissen zum Besten, Fachbücher erscheinen in atemberaubender Geschwindigkeit, das Social Web quillt über vor „x steps to get the most out of“-Beiträgen und Kunden beginnen mit den Füßen zu scharren, damit die nächste Revolution im Marketing nicht ohne sie stattfindet. So regelmäßig sie kommen, so regelmäßig gehen die Hype-Themen dann auch wieder: Mehr oder weniger bescheiden integrieren sie sich ins Tagesgeschäft (Kundenkarten? Es gibt sie tatsächlich noch!), gehen ein ins Kuriositäten-Kabinett des Marketings (Second Life), verschwinden komplett aus dem kollektiven Gedächtnis (da fällt mir just kein Beispiel ein) oder kehren zombieartig ein paar Jahre später in leicht verändertem Gewand wieder – mit der Hoffnung, es diesmal zu schaffen (Location Based Services). Als Planner hat man drei Standard-Optionen, damit umzugehen: 1. wegducken und aussitzen (ist für unsere Kunden eh nicht relevant), 2. dem Kunden eine Trend-Präsentation machen mit den inzwischen schon etwas breitgetretenen Standard-Cases, einer SWOT-Analyse und einem Vorschlag für ein Pilotprojekt (wird dann meist eh nicht umgesetzt) oder 3. selbst zum Verkünder und Experten werden (à la „Ab jetzt werden wir alle ganz anders mit Marken, Medien, Kommunikation und Konsumenten umgehen müssen“). Nur selten wird allerdings analysiert, warum „the next big thing“ sich dann doch nicht durchsetzen konnte. Tut man es doch, dann zeigt sich oft, dass bestimmte Grundanforderungen falsch oder gar nicht bedacht oder völlig übersteigert von wenigen Spezialfällen auf das große Ganze hochgerechnet wurden. Hier drei prominente Beispiele.

1. Big Data – ein Allmachts-Traum begegnet der Unternehmens-Realität

Versprochen wird nicht weniger als die ultimative Marketing-Maschinerie: Durch den Deep-Dive in die hyperkomplexe Datenflut sollen völlig neue Hebel für das Geschäft enthüllt und damit das perfekt algorithmisierte One-to-One-Marketing mit eingebauter Erfolgsgarantie Realität werden. Warum wird das so auch in Zukunft nicht passieren? Fakt 1: Diese „Daten“ gibt es in den allermeisten Fällen gar nicht. Vielleicht hat sie Google, vielleicht die NSA – die Unternehmen haben sie jedenfalls nicht. Tatsächlich ist es immer wieder überraschend, welche geschäftsbezogenen Daten in Unternehmen NICHT systematisch gesammelt, verglichen oder gar verknüpft werden. Stehen dann doch einmal Vereinheitlichung, Konsolidierung und Quantifizierung von eigenen und Umwelt-Daten zur Debatte, so stellt sich sehr schnell die ROI-Frage. Und da die Budgets für Marktforschung und Marketing-Maßnahmen oft aus demselben Topf stammen, ist das Ergebnis absehbar: Lieber Maßnahmen ohne echte Wirkungskontrolle als perfekt kontrollierte Null-Wirkung aufgrund zu dünnen Budgets. Fakt 2: Die Handlungsoptionen sind häufig entweder banal oder zu komplex für die Organisation. Dass man in kalten Zeiten lieber Schokolade in die Confiserie-Auslage legt und in heißen Fruchtiges, darauf kam der kluge Bäckermeister auch schon ohne multivariate Verknüpfung von Wetterdaten und Absatzzahlen (auch die Haltbarkeit der Produkte sprach dafür). Andererseits überfordert häufig schon die zeitgenaue regionale Auslieferung von Packungs-Designs oder die Verknüpfung von Online-Promotions mit Offline-Käufen die sauber getrennten Organisationsbereiche der Unternehmen oder die diffizil geplante Handels-Logistik. Und schnell findet man sich mit solchen Verknüpfungen auch mitten im Schlachtfeld zentraler und dezentraler Zuständigkeiten. Man würde ja gern, aber so einfach geht das halt nicht.

2. Die digital-soziale Konsumenten-Revolution fällt (schon wieder) aus

Schon bei Web 1.0 hörte man die Nachricht vom baldigen Tod des „klassischen Marketings“, zehn Jahre später wurde sie nahezu identisch wiederholt: Die selbstbewussten, topinformierten, eng vernetzten und in Sachen Ehrlichkeit, Authentizität und Nachhaltigkeit hochkritischen Konsumenten übernehmen jetzt das Ruder der Markenführung. Wer jetzt noch auf Bevormundung und Beschallung setzt und nicht auf Transparenz, Dialog und Kollaboration, dem wird demnächst wie im alten Rom der kollektive Daumen-hoch („I like“) entzogen und er geht elendig im vernetzten Verbraucher-Boykott zugrunde. Und die Realität 2.0? Fakt 1: Digital-soziale Lethargie macht sich breit. Zwar hat jeder in seinem virtuellen Bekanntenkreis noch einige, die weiter fleißig posten, twittern, sharen, liken etc., aber immer weniger Menschen beteiligen sich noch aktiv am digitalen Austausch. Am digitalen Lagerfeuer findet weniger die ernsthafte Debatte statt, sondern der Wettkampf der Klassen-Clowns: Kurzfristig unterhaltsame Effekthascherei, die allenfalls angehobene Augenbrauen bewegt. Facebook selbst berichtet den Niedergang der „organischen Reichweite“ und positioniert sich als Abspielstation für „amplified ads“ – willkommen zurück im guten alten Sender-Modell. Nicht der Shitstorm ist der Todbringer im aktuellen Zeitalter, sondern nachhaltiges Desinteresse. Fakt 2: Marken sind noch langweiliger als Menschen. Wer schon seinen realen virtuellen „Freunden“ kaum noch Beachtung schenkt, der reagiert erst recht nicht auf künstliche Geschöpfe. Zwar mögen engagierte Fans schon einmal tolle Burger gebaut und Olympia zurück ins Programm gevotet haben. Aber: Derartige Massen-Mobilisierung scheint eher die (zeitnah Effie-prämierte) historische Ausnahme zu sein als die allgemeine Zukunft. Zugleich zeigen diese Cases auch, dass Kollaboration vor allem dann richtig einschlägt, wenn sie zugleich mit der vollen Klaviatur integrierter Kommunikation „klassisch“ rausposaunt wird. Und da Preis-Promotions wiederkehrend als stärkster Antreiber für Konsumenten-Involvement identifiziert werden, steht eh zu befürchten, dass nicht die Konsumenten den Marken den Garaus machen werden, sondern diese sich durch digitale Verramschung selbst auszehren.

3. Kommunikations-Agenturen werden doch nicht zu kreativen Unternehmensberatungen

Amir Kassaei propagiert es schon eine ganze Weile, die Herren Botzenhardt und Pätzmann untermauern es wissenschaftlich (und wir Planner kommen dabei sehr gut weg): Das alte Agentur-Geschäftsmodell ist überholt. Die Zukunft gehört jenen, die sich weniger mit „bunten Bildern“ beschäftigen, sondern mit der „kreativen“ Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen und -praktiken. Warum taugt diese Positionierung nicht als flächendeckendes Modell? Fakt 1: Es fehlt kompetentes Personal. Der normale Agentur-Mitarbeiter wird angelernt und sozialisiert, um sich zum Profi für ästhetische Anpreisung und Verkaufsförderung zu entwickeln. Seine Erfolgswährung ist nicht Geld, sondern „Aufmerksamkeit mit Handlungsfolge“. Wie sein Kunde (und meistens auch sein Arbeitgeber) genau Geld verdient, bleibt außerhalb seines Horizonts. Woher soll er plötzlich Eingebungen bekommen, kreative Hebel zu kreieren mit direkten Auswirkungen auf Geschäftsstrategien, Kostenstrukturen, Deckungsbeiträgen etc.? Zwar mag manche kluge Idee das Geschäft des Kunden befeuern und mancher Agentur-Geschäftsführer als kompetenter Partner im Gespräch von Unternehmer zu Unternehmer wahrgenommen werden. Doch dies sind Ausnahmen – sie lassen sich nicht systematisch auf das Alltagsgeschäft des Gros von Agentur-Mitarbeitern ausrollen. Fakt 2: Es fehlt ein tragfähiges Geschäftsmodell. Zu diesem Punkt schweigen die Experten ganz besonders: Wie lässt sich das Versprechen nachhaltiger Impulse für die Geschäftsentwicklung vertraglich fixieren? Welcher Agentur-Manager will erst am Ende einer vielleicht mehrjährigen Realisierung seinen Gewinnanteil bekommen – mit minimalem Einfluss auf die Umsetzung? Welcher Kunde bezahlt seine Kommunikations(!)-Agentur dafür, erst die unternehmerischen Zusammenhänge seines Geschäfts erklären zu müssen und sie dann „mitdenken“ zu lassen? Lassen sich Geschäftsimpulse überhaupt in Aufwände umrechnen mit Vereinbarungen über „3–5 nachhaltige Ideen pro Quartal“? Und nicht zuletzt: Wenn alle beraten, wer produziert dann eigentlich noch die „bunten Bilder“?

Fazit: Der geschärfte Blick hilft, echte Chancen zu erkennen.

Der Nutzen solch kritischer Analysen besteht darin, im Laufe der Zeit zu lernen, die Grundannahmen, Tiefenstrukturen und Lücken eines aktuell „heißen“ Themas relativ schnell zu erfassen. Die große Chance ist dann, gerade jene Ausnahmen zu erkennen, wo die Bedingungen ausnahmsweise doch mal stimmen. Und damit als Planner noch eine vierte Option zum Umgang mit dem Hype zu bekommen: Nämlich mitzuwirken an wunderbaren Big-Data-, Social-Web-, kreativen Unternehmensberatungs- und weiteren Lösungen, die nicht nur das Zeug zur Realisierung haben, sondern auch zu einem „echten“ Erfolg. Auch wenn die Marketing-Community schon längst ein ganz anderes Thema feiert.

Foto: “ich finds geil!” | kallejipp | photocase.de

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