Brand Building postdigital: Die neue Realität der neuen und alten Medien

Wenn eine Marke heutzutage Teil der Verbraucherrealität sein will, muss das Marketing neue und alte Medien zu nutzen verstehen. Das bedeutet auch, die jeweils geltenden Prinzipien von Medienproduktion und Mediennutzung zu verinnerlichen. In der Konsequenz wird es für das Marketing immer wichtiger, genau zu wissen, wofür die eigene Marke im Kern steht.

Ingo Grosch, Senior Strategic Planner bei Publicis, Frankfurt

 

Paid Media: Wer für Aufmerksamkeit bezahlt, steht unter Zeitdruck

Bekannt ist die Erfindung der Seifenoper als Umfeld für Radio- und Fernsehwerbung. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sich niemand freiwillig Werbung ansieht. Werbung muss stattdessen Aufmerksamkeit anzapfen, die eigentlich anderen Dingen gilt. Werbung unterbricht. Und wer unterbricht, muss sich kurzfassen. Die kommunikative Leistung der Werbung besteht darin, Komplexität auf unvergleichliche Weise zu reduzieren. Ihre Gestaltungsprinzipien dafür sind „single-mindedness“ und werbliche Überhöhung. Gute Werbung berührt die Menschen. Durch Alltagsrelevanz und faszinierende Gestaltung entschädigt sie für die Unterbrechung. Auf diese Weise wird nicht nur der kurzfristige Abverkauf gefördert. Gute Werbung trägt substanziell zum Brand Building bei.

 

 

Das Web ist Markthalle, Einkaufsberater und Meinungsspeicher zugleich

Wir alle wissen: Das Mediennutzungs- und Einkaufsverhalten der Verbraucher hat sich durch das Web grundlegend verändert. Online-Shopping geht ohne Ladenöffnungszeiten direkt beim Hersteller und beim Händler. Pro Marke gibt es so viele Points of Sale wie nie zuvor. Doch vor dem Kauf kommt die Entscheidung. Und weil Mediennutzung zunehmend vom reinen Empfangsmodus in die Simultaneität von Rezeption, Interaktion und Konversation wechselt, führt die Customer Journey immer häufiger nicht vor ein Regal, sondern (zumindest vorher oder auch gleichzeitig) ins Netz. Auf diese Weise erhält der Verbraucher weitaus umfangreichere Informationen zu einem Produkt, als es die Werbung leisten könnte und wollte. Die Online-Evaluation wird zum vorgezogenen Moment der Wahrheit.

 

Owned Media: Gute Inhalte ziehen rund um die Uhr Aufmerksamkeit auf sich

Sobald der Mediennutzer sich aktiv mit einem Thema auseinandersetzt, ist seine Aufmerksamkeit kein limitierender Faktor mehr. Stattdessen hat er eine hohe Erwartung an Informationsgehalt, Unterhaltungswert und Nutzungserlebnis. Inhalte und Interaktionen mit Mehrwert sind gefragt. Marken können mediale Berührungspunkte schaffen, die völlig anders als Werbung geartet sind, wenn sie sich an Themen statt Produkten orientieren. Corporate Publishing und Customer Services sind gewiss nicht neu. Kundenmagazine, Infobroschüren und Hotlines wurden schon immer vom Verbraucher zurate gezogen, um sich – mal mehr, mal weniger unterhaltsam – über konkrete Themen zu informieren. Zum Beispiel das „MAGGI Kochstudio“: Seit 1959 publiziert es Content in Form von Rezepten und Tipps und stellt sich allen Fragen rund ums Kochen. Das Web hat nun für jede Marke nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit geschaffen, multimediale „Anlaufstellen“ einzurichten, die 24/7 erreichbar sind. Solche „On-Demand-Markenkontakte“ werden vom Mediennutzer interessengetrieben angesteuert. Inbound-Marketing eben. Und weil Owned Media – wenn gut gemacht – zu Earned Media führt und Earned wiederum Owned populärer macht, hat man es hier mit einem sich selbst verstärkenden System zu tun. Deshalb sind digitale Touchpoints nicht als Verlängerung einer TV-zentrierten Kampagne zu verstehen, sondern als permanente Knotenpunkte im kommunikativen Ecosystem einer Marke. Kampagnen-Flights sind temporär on air, aber das Netz ist always online.

 

Schweinebauch goes online

Die heutige Marketing-Realität sieht aber insbesondere im Web häufig anders aus: viele Banner; massives Messaging; mehr Ads als Acts; Werbekontakte, die viel versprechen, statt Markenerlebnisse, die viel bieten. Paid Media greift um sich: Reichweite war im Social Web ursprünglich mal das Resultat sozialer Interaktionen. Doch dort, wo einst Netzromantik zu spüren war, werden Reichweiten mittlerweile schnöde via Werbekontakt verkauft. Social Media als Kostenstelle der Werbe-Spendings. Doch damit nicht genug: Von hochwertiger Werbung ist man im Netz viel zu häufig weit entfernt. Von Brand Building ganz zu schweigen. Stattdessen grassiert der Schweinebauch. Vielerorts wurde das Prinzip der Verkaufsförderung einfach in den digitalen Raum übertragen. Performance-Marketing ist interaktives Direktmarketing im Web. Das bringt Klickraten. Und zumeist auch kurzfristigen Abverkauf. Die zunehmend vorhandene Datenfülle lässt nämlich spitzes Targeting zu und verlockende Konversionsraten in greifbare Nähe rücken. Und so funktioniert im Netz die Überführung vielversprechender User-Segmente zum meist nahe gelegenen Buy-Button ausgesprochen gut. Dem Werbetreibenden werden Erfolgskontrolle und Optimierung in Echtzeit ermöglicht. Und so lassen sich zwei Entwicklungen beobachten:

1. Das Push-Marketing erlebt eine Hochkonjunktur, obwohl die Digitalisierung eigentlich dem Inbound-Marketing den Weg bereiten wollte.

2. Werbung wird zunehmend verstanden als ein Stimulus zur kurzfristigen Verkaufsförderung; reduziert auf die Funktion, einen Call-to-Action zu distribuieren.

 

Die Marke prägt das Kaufverhalten

Wenn im Web eine Grenze an Unschärfe gewonnen hat, dann die zwischen Kommunikation und Vertrieb. Viele glauben, dass die Aneinanderreihung kurzzeitiger Absatzsteigerungen automatisch zu kumulierten positiven Langzeiteffekten führe. Studien belegen aber: Um das Markenguthaben zu stärken, bedarf es Maßnahmen mit mittel- und langfristigem Ansatz. Kurzfristige Aktionen zahlen nichts ein auf das Markenguthaben in den Köpfen der Verbraucher. Das jedoch wäre wichtig. Schließlich ist eine Marke mehr als Logo und Colorcode zur Wiedererkennung. Zum einen erhöht die Marke die Preisbereitschaft. Zum anderen entfaltet das Markenguthaben in den Köpfen der Verbraucher eine Depotwirkung: Es wirkt auf die Verbraucherpräferenz bei zukünftigen Kaufentscheidungen. Grundsätzlich gilt: Je weniger Markenguthaben in den Köpfen der Verbraucher vorhanden ist, desto mehr Aufwand und Incentivierung muss bei jeder kurzfristigen Promotion betrieben werden.

 

Nicht Kommunikation für Produkte, sondern Kommunikation als Service

Die zeitgemäße Kommunikationsarchitektur einer Marke bildet ein Ecosystem, das sich mit seinen Touchpoints über Paid, Owned und Earned erstreckt und dadurch der heutigen Mediennutzung der Menschen gerecht wird. Dazu gehören eben auch Werbung und andere Paid-Media-Formen, die aber idealerweise mehr sind als nur ein Call-to-Action oder zu mehr führen als nur dem Buy-Button. Marken, die auch morgen noch kraftvoll mitspielen wollen, sollten kommunikative Angebote schaffen, die über Kaufempfehlungen, Promotion-Programme oder virale Einzelmaßnahmen hinausreichen. Erst dann wird die Kommunikation zum Service. Zu einer eigenständigen Leistung der Marke. Zusätzlich zum Produkt im Shop. Entstehen können solche Markenerlebnisse vor allem dann, wenn man die Grenzen zwischen Kommunikation, Service und Produktinnovation unschärfer werden lässt. Dazu müssen on- und offline nicht nur kompatibel gestaltet, sondern zu einer transmedialen Story integriert werden.

 

Die Voraussetzung: Den Brand Purpose erlebbar machen

Um die neuen Möglichkeiten nutzen zu können, bedarf es zweierlei: Medienverständnis und Markenverständnis. Will Markenkommunikation entlang der Customer Journey relevant sein, muss sie sowohl werbliche als auch redaktionelle Gestaltungsprinzipien beherrschen. Schließlich haben Werbeauftritte und Content-Angebote unterschiedliche kommunikative Funktionen. Während die einen versprechen, müssen die anderen einlösen. Doch es gibt auch entscheidende Gemeinsamkeiten. Denn nicht nur für Produkte und Werbung, sondern für Markenerlebnisse jeglicher Art gilt: Mehrwert entsteht nur durch Relevanz für den Verbraucheralltag. Gleichzeitig erfordert der Wettbewerb Differenzierung. Nicht nur Werbebotschaften, sondern alle Inhalte sollten so ausgewählt und gestaltet sein, dass sie den unverwechselbaren Wertekosmos einer Marke erlebbar machen. Starke Medienmarken wie BBC, FAZ oder Der Spiegel arbeiten mit ihrem jeweiligen redaktionellen Selbstverständnis schon immer so. Nicht das, was technisch möglich ist, sollte das Maß der Dinge sein. Sondern das, was für den Verbraucher Mehrwert schafft und gleichzeitig das einmalige Profil einer Marke zum Ausdruck bringt. Fürs Marketing wird es daher immer wichtiger, Achtsamkeit für die eigene Marke zu entwickeln. Ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Markenkern. Ein Gespür, wofür die Marke steht und wozu sie existiert. Der Brand Purpose beschreibt, welcher höheren Bestimmung eine Marke folgt – jenseits von Quartalszahlen. Nur wenn der Purpose einer Marke durch das Produkt und die Kommunikation erlebbar wird, kann das Marketing sein ursprüngliches Versprechen einlösen: einen qualitativen Unterschied im Alltag der Menschen zu machen.

 

 

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