Die Mär von den Zielen und den Zahlen

Vier mögliche Gründe, warum Marketing und Agenturen bei Ziele-Definition und Controlling nur selten nach Marketing-Lehrbuch arbeiten. Eine Lösung könnte darin liegen, quantitative KPIs eher als Experimentierfeld anzusehen.

Von Knut Riedel, freier Strategy Director, Hamburg.

 

Der idealtypische Prozess der Marketing-Steuerung ist in jedem Lehrbuch nachzulesen: Anhand übergeordneter Unternehmens-Ziele und umfangreicher Situations-Analysen werden Marketing- und Kommunikations-Ziele quantifiziert (hier gern Zitat Kaplan/Norton: „If you can‘t measure it, you can‘t manage it.“). Dann folgen Strategie-Definition, operative Planung und Umsetzung. Und schließlich ein Controlling, das den Grad der Zielerreichung feststellt, die Basis für den nächsten Zyklus darstellt und vor allem die Richtung für mögliche Optimierungen weist.

Der Marketing- und Agentur-Alltag sieht in der Regel allerdings deutlich anders aus. Denn nur selten werden Marketing-Ziele wirklich eindeutig quantifiziert und noch seltener findet ein Controlling statt, das langfristig zu echten Lerneffekten beiträgt.

 

Effie-Skepsis als Symptom

Hier ist auch die unter Kommunikations-Strategen verbreitete Distanz zum Effie anzusprechen. Bitte nicht falsch verstehen: Prinzipiell wird der Anspruch begrüßt, die außerordentliche Wirkung von Kommunikations-Lösungen auszuzeichnen und nicht nur kreative Genialität, und auch die Kategorien-Reform wird durchweg befürwortet. Nein, die Skepsis sitzt tiefer. Es ist die Grundsatzfrage, ob hier nicht alljährlich derjenige gewinnt, der am spektakulärsten und aufwendigsten Geschichten (nach-)erzählt, die sich in der Realität so niemals wirklich ereignet haben. Und das anhand von Zahlen nachweist, die er ohne Einreichung nie zu Gesicht bekommen hätte.

Wodurch aber kommt es so häufig zur Abweichung vom Ideal?

 

1. Marketing zwischen Bauchgefühl und KPI-Fetischismus

Der Großteil der Marketing-Entscheidungen fällt eher unmittelbar-hedonisch („Gefällt mir“) als langfristig-numerisch („Welchen messbaren Effekt will ich?“). Erst recht, wenn Top-Manager mitreden. Dass die Website nach dem Relaunch besser ist, sieht doch jeder – wer braucht da noch Seitenabrufe, Verweilzeiten usw.? Stimmen die Verkaufszahlen, haben Marketing und Vertrieb einen guten Job gemacht – wer will da noch wissen, wie „international“ das Image ist? Und wenn sich der CEO freut, den TV-Spot endlich live zu sehen – wer will da noch über Conversion-Optimierung diskutieren? All dies ist menschlich nachvollziehbar und alles andere wäre auch überhaupt nicht zielführend für die eigene Karriere.

Insbesondere in internationalen Konzernen findet man aber auch das Gegenteil: Ein rigides Marketing-Controlling trackt rigoros die Performance und macht exakte Vorgaben. Über den Sinn der KPIs diskutiert man schon lange nicht mehr – oder ständig aufs Neue. Denn wie „+2 PP mehr Internationalität“ konkret zu erreichen seien, kann kein Datenspezialist sagen. Als Agentur folgt man einem Ritual aus kreativer Spekulation, internem Verkaufen, ermüdendem Pretesting und stetem Bangen, was die Marktforschungs-Maschinerie wohl diesmal ausspuckt, um auf Wohl und Wehe der Kundenbeziehung einzuwirken.

2. Marketing-Management ist kein Agentur-Business

Kommunikations-Agenturen fühlen sich zuständig für die Entwicklung kluger Lösungen und gern auch die „Pflege“ der Marke. Sich dabei von Zahlen leiten zu lassen, ist in der Regel nicht ihr Ding. Seit geraumer Zeit sind für „harte“ Zahlen die Consultants zuständig, für „weiche“ die Marktforscher und für Budget-Verteilung und Wirkungs-Modelle die Media-Kollegen. Und seit mindestens ebenso langer Zeit wird beklagt, dass die Kundenberatung auch nicht das sei, was sie „früher“ einmal war. Indes: Meint es ein Kunde ernst mit der Quantifizierung, dann holt er sich in der Regel die etablierten Experten an Bord. Was die „Umsetzer“ dann bestenfalls zu interessierten Zaungästen macht.

Hat eine Agentur doch einmal Beratungs-Ambitionen, stellt sich schnell die Frage, wie viel denn in qualifizierte „Number Crunsher“ investiert werden muss. New-Business-Aktivitäten müssen her, ohne das Stammgeschäft zu vernachlässigen. Und stetig droht das Risiko, dass sich der neue Anspruch als inkompatibel zur etablierten Kultur und internen Prozessen erweist.

Fazit: Die Welt ist komplexer geworden und voller Spezialisten. Für Kommunikations-Agenturen sind dabei vor allem die Rollen als „Kreative“ und „Umsetzer“ vorgesehen. Und jede Umpositionierung in Richtung ernst zu nehmender Marketing-Beratung birgt ein ernsthaftes Geschäftsrisiko.

3. Planning hat sich auf „einfühlsames Frontloading“ spezialisiert

Stephen King, einer der Väter des Plannings, wollte damit in den späten 1960ern eigentlich genau jene Planungs- und Kontroll-Funktion stärken, die Account- und Media-Men in seinen Augen nur noch unzureichend erfüllten. (So viel zu „früher war alles besser“.)

Tatsächlich entwickelte sich die Profession jedoch insbesondere in Deutschland in eine andere Richtung. Zahlen wurden zwar nicht ignoriert, das Augenmerk lag aber mehr auf dem Qualitativen: psychologisch sensible Consumer Insights, sprachlich fein differenzierte Definition von Marken-Werten und inspirierende Sprungbretter für die Kreation. Die professionelle Selbstselektion verstärkte diese Tendenz über die Zeit und quantitativ interessierter Nachwuchs fand seinen Platz dann fast zwangsläufig bei den oben genannten Spezialisten.

Die Folge: Planner wurden zu Experten in der Rolle der „Anschieber“, die zwar zum Projektstart wichtige Impulse geben („Frontloading“ nannte das der ehemalige APG-Vorstand Nils Wollny einmal), in Definition und aktives Controlling von Kennzahlen aber kaum noch einbezogen werden.

4. Die Realität ist hyperkomplex, ihre Vermessung reichlich aufwendig

„Big Data“ wird zunehmend als digitaler Traum entlarvt, der erst einmal immens viele Ressourcen frisst, bevor überhaupt eine Basis für mögliche Ertragssteigerungen steht. Und der an Kreativ-, Umsetzungs-, aber auch Digital-Agenturen überwiegend vorbeigeht, weil deren Expertise hier einfach zu dünn ist. Und wo viele Unternehmen bereits daran scheitern, ihr CRM voll auszunutzen, wer soll da überhaupt all die vielen Daten sammeln, konsolidieren, bereinigen, analysieren und auch noch relevante Schlüsse daraus ziehen? Wer investiert in ökonometrisches Modelling, internationale Vergleiche, Experimente, Konkurrenz-Trackings und die Verrechnung mit externen Faktoren? Und wer stellt sicher, dass die errechneten Erfolgsfaktoren dann auch zu konkreten Veränderungs-Vorgaben führen – nicht nur für programmatische Werbemittel-Distribution, sondern auch für Konzeption und Gestaltung („+2 PP mehr Internationalität, bitte“)?

 

Ausblick: Brötchen in angemessener Größe

Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Vielleicht liegt das Grundproblem ja darin, dass das Lehrbuch-Ideal einfach zu hoch gesteckt ist für die reale Marketing-Welt? Vielleicht sind ja kleine Schritte angemessener als hehre Ideale? Vielleicht sollten wir quantitative KPIs eher als Experimentierfeld sehen und entsprechend niederschwellig damit wieder Kontakt aufnehmen? Um weder blind an Zombie-KPIs gemessen zu werden noch die Flinte gleich ganz ins Korn zu werfen? Denn eigentlich ging es doch darum, die Auswirkungen des eigenen Handelns ein wenig besser zu verstehen und ein wenig klüger in die Zukunft zu gehen.

Und der Effie? Auch hier wird man sich fragen müssen, wie man weniger die spektakulärsten Inszenierungen außerweltlicher Erfolgsgeschichten belohnt, als vielmehr dafür sorgt, dass eben jene Kunden und Agenturen belohnt werden, die ein wenig mehr zielführende Rationalität in ihren Alltag einfließen lassen – und genau damit auch in der Real-Welt erfolgreich sind.

 

 

 

new business

Erschienen in: new business 10/ 06.03.2017

Quelle Titelbild:Nomadic Photo Studio/shutterstock.com

 

 

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