Die Macht der Frequenzen

Wo das Wissen aufhört, fängt die Wahrheit an. Über die Herausforderung, Stimmungen und Schwingungen von Konsumenten in unsicheren Zeiten in Kommunikationsstrategien mit „einzuplanen“.

Von Jochen Klein, Agentur-Inhaber und Leiter Strategie & Planung bei Hundert Grad Kommunikation, Frankfurt/Main.

 

Irgendwann fährt er seinen PC hoch, sieht den ersten Kurs des Tages, verfolgt ihn, setzt innerlich erste Marken, simuliert, vibriert, fiebert bereits, spürt Schweißperlen auf seiner Stirn – obwohl er noch nichts gemacht hat. Dann, dann geht er rein. Hochkonzentriert. Zugespitzt bis in die letzte Hirnzelle. Hofft, die erste Aufwärtsbewegung mitzunehmen, hat vor, bei über 5000 zu shorten, bei 4980 wieder long zu gehen bis 5010. Doch es kommt anders: Der Kurs fällt. Fragen und Gedanken schießen in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf: „Ist meine Position zu groß? Bin ich zu früh rein? Habe ich überhaupt einen Plan? Akzeptiere ich meinen Verlust und höre auf? Oder kämpfe ich gegen meine Psyche und überwinde die Angst?“

 

Endokrin gesteuerte Entscheidungen

Ein Daytrader muss in kürzester Zeit Entscheidungen treffen. Die meisten dieser Spezies kennen die Unternehmen, auf deren Aktien sie setzen, sind mit verschiedenen Gewinnstufenmodellen vertraut, setzen auf die besten Tradingmethoden. Genau: Ich meine die Profis, also diejenigen, die jahrelange Backgrounds aufgebaut haben, die auf Gigabytes von Erfahrungswerten zurückgreifen können und die mit vollem Bewusstsein tun, was sie da tun.

Wirklich? Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die meisten Crashs an der Börse biochemischen Ursprungs bzw. endokrinen, hormonellen Ursprungs sind. Dass die Ausschüttung von Glücks- und Angsthormonen durchschlagend ist – und zerschlagende Wirkung entfalten kann. Dass kaum jemand die Prozesse in seinem limbischen System austricksen kann, sondern von der Kraft seiner Emotionen heimgesucht und ggf. überwältig wird. Und Gier ist eine der stärksten emotionalen Kräfte.

 

Emotionen zwischen Chaos und Stabilisierung

Über die Macht des Unbewussten und die Bedeutung des limbischen Systems in der Marketing-Kommunikation ist viel geschrieben worden. Wir Strategen kennen alle „Think Limbic!“ von Hans-Georg-Häusel. Auch wenn wir aus meiner Sicht in unserer täglichen Arbeit zu wenig darauf eingehen. Weil das Verarbeiten von Daten und handfesten Fakten einfacher ist als die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, mit Eventualitäten. Ich setze heute noch einen drauf und werfe als Headline „Die Macht der Frequenzen“ in die Runde.

Ich erlebe eine Zeit der Extreme und der puren Intensität. Auf der einen Seite Chaos, Unsicherheit, Angst, Orientierungssuche. Auf der anderen Seite Aufbruch, Veränderungswillen, Startup-Power und Abenteuerlust, zwischen spirituell-veganer Faszination und nüchternem Hightech-Wissen Neues auf die Welt zu bringen. In einer Welt, in der nahezu alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme kollabieren. In der kaum noch ein Stein auf dem anderen steht und alles in einer gewaltigen Transformationswelle eingebunden ist.

 

Zeitalter der Frequenzen und Energien

Wir befinden uns aus meiner Sicht aktuell in der vielleicht krassesten Phase von Veränderung, die die Menschheit seit der Industrialisierung erlebt hat. Und zwar alleine deshalb, weil die digitale Revolution den gesamten Globus, alle Kontinente, sämtliche Nationen und Kulturen gleichzeitig erfasst und wir uns an der Stelle technisch und in puncto Innovation viel schneller entwickeln als unsere auf Sicherheit ausgerichtete Seele mitkommt und auch mitkommen will. Die Dynamik an Innovation, an täglichen Updates und Veränderungen ist derart hoch, dass auch die strategische Planung in der Marketing-Kommunikation viel dynamischer, agiler und iterativer denken und arbeiten muss. Das tut sie aus meiner Sicht noch viel zu wenig.

Doch wie gehen wir Faktenjäger und Analyseprofis mit der Macht von Frequenzen um? Im Machtzentrum der Emotionen – dem limbischen System – fallen zwischen Stimulanz und Dominanz 70 bis 80% aller Entscheidungen, auch Kaufentscheidungen. Doch welchen Faktor nimmt die Macht der Frequenz ein?

 

Hirnwellen-Aktivitäten einschätzen

Beginnen wir positiv: Bei einer Hirnwellen-Frequenz von 8-13 Hertz – der sogenannten Alpha-Aktivität – spricht die Wissenschaft von einem Höchstmaß an „entspannter Wachheit“. In diesem Zustand befinden sich vor allem Kreative. Jedoch nur in der Phase des kreativen Wirkens und Schaffens. Ich sprach zu diesem Thema mit dem Frankfurter Modeschöpfer Chem Mustafa Abaci, der mir bestätigte: „Wenn ich eine neue Kollektion entwickle und sich alle losen Ende verschiedenster Ansätze zu einer neuen stimmigen Idee verbinden, wenn ich das Momentum spüre, gerate ich in den Flow und bin fast meditativ drauf, in jedem Falle aber glücklich.“ Dies ist die Aussage eines Unternehmers.

Doch wie sieht es mit der Hirnwellen-Aktivität der breiten Masse aus? Derer, die wir in der Regel einfangen und bis zur Kaufentscheidung kommunikativ begleiten? Da haben wir zum einen immer mehr chronisch überforderte Hochleistungspferde, die ständig erreichbar sind, viel zu viel negativem Arbeitsstress ausgesetzt sind und sich fast immer Sorgen um die Lage der Nation und Ihren Job machen, weil sie sich auch noch mit den politischen Schieflagen der Welt auseinandersetzen und Schlimmes befürchten. Diese Menschen sind im Betawellen-Bereich oberhalb von 25 Hertz unterwegs. Sie leiden oftmals nicht umsonst unter „Kopf“-Schmerzen.

 

KPI-Kultur trifft auf nicht messbare Größen

Zielgruppenanalysen orientieren sich nicht an Hirnwellen. Nach wie vor nicht. Das ist vielleicht auch nicht möglich. Denn es ist in der Tat schwer, die psychische und emotionale Befindlichkeit des menschlichen Individuums, geprägt durch äußere Einflüsse, wie Krisen, Kriege, Terror, Brexit, Naturkatastrophen in die strategische Planung mit einzubeziehen. Doch der Trend, sich immer stärker auf vorhandenes Datenwissen und eine, durch digitale Infrastrukturen motivierte neue KPI-Kultur zu konzentrieren, bringt aus meiner Sicht auch ein Risiko mit: den Blick auf die Welt und den Menschen durch die digitalen Möglichkeiten mehr und mehr zu verjüngen und somit einzuschränken.

Wir sollten akzeptieren, dass es auch einen Raum gibt, den ich als „mystischen Raum“ bezeichne. Jenen Raum, der uns nicht gleich zugänglich ist, in dem aber jede Menge unbekannte Größen schlummern, die das Verhalten von Menschen, nennen wir sie Konsumenten, zusätzlich steuern. Ganz subtil. Schwer messbar. Aber fühlbar.

Für die tägliche Arbeit in unserer Strategie-Unit bei Hundert Grad bedeutet das:

  1. Konsumenten nicht nur als immer besser „auslesbare digitale Datenprofile“ zu verstehen, sondern als fragile Individuen, die primär unbewusste Entscheidungen treffen und in ihrem Verhalten letztendlich unberechenbar sind.
  2. Die jeweiligen Stimmungsumfelder von Marken, Branchen, Unternehmen und deren Kunden wachsam zu beobachten und seismographisch zu erfassen.
  3. Strategische Zuspitzungen für die Kreation zu formulieren, die etwas Affirmatives, Großes, Visionäres mitschwingen lassen – und dennoch genug polarisierendes Potenzial haben, um sich deutlich abzuheben.
  4. Mystische Räume, die uns Strategen nicht gleich zugänglich sind, zu akzeptieren und sich ihnen kritisch hinterfragend aber dennoch neugierig zu nähern.
  5. Den Dialog unter den strategischen Planern zu intensivieren und um die Auseinandersetzung in puncto der Wirkung von Stimmungen und Schwingungen auf Kaufentscheidungen zu bereichern.

Ich sehe die derzeitige Phase des Denkens und Arbeitens als echte Chance, jede Menge Neues zu erfahren und Unbekanntes zu erforschen. Zumindest haben wir eins verstanden: Wo das Wissen aufhört, fängt die Wahrheit an.

 

new business

Erschienen in: new business   04.09.2017

Quelle Titelbild: maryG123@shutterstuck.com

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