Wenn Marken tanzen dürfen

Die Zeiten, in denen sich Marken allein auf ihre Markenwerte und Produktversprechen konzentrieren konnten, sind vorbei. Wer nicht Teil der Kultur ist, läuft Gefahr an Relevanz zu verlieren und übersehen zu werden.

Von Ann-Kathrin Hedderich, Strategic Planner, TBWA\Düsseldorf GmbH.

 

Als Strategen werden wir immer wieder mit der Aufgabe konfrontiert, Marken differenzierend am Markt zu positionieren. Die Frage „Was können wir als Marke besetzen, das niemand sonst besetzen kann?“ steht dabei allgegenwärtig im Raum. Wenn man ehrlich ist, muss man auf diese Frage oft genug „Nichts!“ antworten.

 

Aber von Anfang an

Die Idee, durch Marken eine Differenzierung für homogene Produkte zu erreichen, ist im Zuge einer ungeheuren Markeninflation unter Beschuss. Eine wirklich eigenständige Differenzierung in dieser Markenflut wird zunehmend schwerer. Das Ergebnis: Der Großteil der Marken würde von den Konsumenten nicht vermisst werden, sollten sie verschwinden.[1]

Waren Marken früher mystische Organismen, an die man sich langfristig gebunden hat, hat sich das Loyalitätsverhalten der Konsumenten längst gewandelt. Für viele Marken gilt dennoch das oberste Ziel der „loyalty beyond reason“. Dabei fokussieren sie sich auf die Kommunikation ihrer zementierten Markenidentität und glauben, eine emotionale Bindung zu ihren Konsumenten aufbauen zu können, die deren Loyalität sichert. Markenloyalität ist aber nicht exklusiv. Stattdessen haben Konsumenten mehrere Marken in ihrem Relevant Set, aus denen sie wählen. Byron Sharp beschreibt sie daher auch als „polygamously loyal“.[2] Bedeutet, dass Loyalität zwar bis zu einem gewissen Grad existiert, aber in einer ungebundenen und sachlichen Form. Die Wahl der Marke ist viel mehr trivial und durch Gewohnheiten und Verfügbarkeiten geprägt. Vor diesem Hintergrund ist es elementar, als Marke physisch und mental verfügbar zu sein; also dann im Relevant Set zu sein, wenn es notwendig ist.

 

Zeit für einen Paradigmenwechsel

Damit werden Marken gezwungen, sich täglich neu mit nachvollziehbarem Mehrwert zu beweisen. Sie stehen hierbei aber auch vor einer neuen Herausforderung: Ihre Konkurrenz besteht nicht länger nur aus ihrer Kategorie, sondern aus allem, was um die Aufmerksamkeit ihrer Konsumenten buhlt. Damit ergibt sich eine ungeheure Informationsflut, die von allen Seiten auf die Menschen einprasselt. Das Ergebnis sind Konsumenten, die eine geringe Aufnahmebereitschaft verbunden mit einer ausgeprägten Aversion gegenüber Werbung besitzen. Addiert man den Einfluss von Celebrities oder die Bedeutung von Social Media, ist die Aussage berechtigt, dass Marken heute mit der ganzen Kultur ihrer Zielgruppe in Kommunikationskonkurrenz stehen. In dieser Situation geht es nicht mehr allein darum, Aufmerksamkeit zu bekommen (denn diese können wir uns auch kaufen), sondern echte Relevanz.

CMOs weltweit antworten auf diese Problematik mit der Schaffung von Kundenerlebnissen. Einer von drei will in den nächsten Jahren 21–50 % des Budgets zu Markenerlebnissen verschieben, um eine stetige Beziehung mit Kunden aufzubauen.[3] 

Der Paradigmenwechsel vom Brand Building zum Brand Living passiert somit schon teilweise. Meiner Meinung nach fokussieren wir den Perspektivenwechsel auf unsere Zielgruppe und ihre Lebenswelt allerdings noch nicht stark genug. Brand Living sollte über einmalige Markenerlebnisse hinausgehen. Wenn unsere Konkurrenz plötzlich aus der Kultur und nicht einer Kategorie besteht, wird es umso wichtiger, eben diese Kultur zu begreifen und antizipieren zu lernen. Dort, wo es eine Marken- und Kulturpassung gibt, besteht für die Marke die Chance, ein Teil des Alltags ihrer Zielgruppe und kulturelles Gesprächsthema zu werden. Dafür müssen Marken sich aber von ihren starren Konstrukten lösen und stattdessen agil und flexibel auf das Zeitgeschehen reagieren.

 

Brand Living par excellence

Wie so etwas in der Praxis aussehen kann, haben unsere Kollegen der TBWA\Chiat\Day Los Angeles für Airbnb bewiesen. Nach langen Gesprächen und Verhandlungen zwischen dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama und dem kubanischen Präsidenten Raúl Castro verkündete Obama im Dezember 2014 die diplomatische Annäherung beider Länder. Diese Zusammenarbeit hatte auch eine Lockerung der Einreisebedingungen zur Folge. Airbnb reagierte rasend schnell, brachte zahlreiche Unterkünfte in Kuba in das Netz und war damit das erste US-Unternehmen, das den kubanischen Markt betrat. Das war nur möglich, da TBWA\ die Entwicklung frühzeitig registrierte, antizipierte und proaktiv mit der Idee „Belonging knows no borders“ an den Kunden herantrat. So konnte schon im Vorfeld alles vorbereitet werden und Kuba wurde zum schnellstwachsenden Markt von Airbnb. Die mediale Resonanz war entsprechend phänomenal und selbst Obama teilte in einem Tweet die Aktion.[4]

 

Wie wir als Strategen im täglichen Doing damit umgehen

Um das zu schaffen, braucht es ein tief greifendes Verständnis der Zielgruppe und ihrer Kultur. Dafür identifizieren und kuratieren Spotter weltweit jeden Tag relevante Trigger. Diese Beiträge werden in kurzen Videos zusammengefasst, die dann als Inspirations- und Informationsquelle an das gesamte Netzwerk weitergegeben werden. Auch außerhalb des Netzwerks kann man über den öffentlichen Instagram-Account (@tbwabackslash) einen Einblick in diesen Kosmos bekommen.

Damit bekommen wir im täglichen Doing die erforderliche Agilität und das Know-how, um Trends rechtzeitig zu identifizieren und unsere Marken in den kulturellen Kontext zu bringen. Gleichzeitig bedeutet das für uns Strategen auch, selber immer wachsam zu sein, um Trigger zu erkennen und Trends zu antizipieren. So können Trigger kontinuierlich weitergegeben und unglaublich schnell kreative Ideen, losgelöst von großen Marketingkampagnen, entstehen. Entsprechend ist das Prinzip durch eine starke Proaktivität geprägt. Das ermöglicht es wiederum auch Strategen, selbst kreativ zu sein und Trigger weiterzuentwickeln.

Durch dieses System schaffen wir es, Marken aus ihren starren Konstrukten zu lösen. Stattdessen können sie sich weiterentwickeln, agil werden und wahrhaftig tanzen lernen, ohne dabei ihren Markenkern zu verlieren. Diese Entwicklung aktiv zu begleiten und zu erleben bedeutet sowohl für unsere Kunden und Endverbraucher als auch für uns selbst eine ganz neue Faszination.

 

[1] Havas Media Group, Meaningful Brands® 2017, http://bit.ly/2lokNAF

[2] Sharp, Byron: How Brands Grow: What Marketers Don’t Know. Australia: Oxford University Press 2010

[3] Freeman Global Brand Experience Study, Brand Experience: A New Era in Marketing, 2017, http://bit.ly/2fU2wtn

[4] TBWA\No Borders, http://bit.ly/2xVA9Qx

 

 

 

new business

Erschienen in: new business   Nr. 44/30.10.2017

Quelle Titelbild: Greenety@shutterstuck.com

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