Das Zeitalter der Unperfektion. Oder: Wie man aus Konversationen Treibstoff macht

Von Gerald Hensel, Senior Stratege bei der Digital-Agentur Blast Radius, Amsterdam

 

Als ich das erste Mal ins Netz ging, war das in der Bibliothek der Agentur, in der ich damals eine Ausbildung zum Werbekaufmann machte. lch sollte irgend was recherchieren, bekam eine kurze Einführung und hörte beim Login dieses merkwürdige Modem-Einwahlgeräusch, dessen Ursprung ich mir bis heute nicht erklären kann.

Ein Studium, vierzehn Jahre und 7.598 Tweets später ist nicht nur mein Leben untrennbar mit dem Web verbunden sondern von uns allen – beruflich und professionell. Was vor einigen Jahren noch ‚Below the Line‘ genannt wurde, ist heute in vielen marketingrelevanten Bereichen das Leitmedium. Und nicht nur das: Weit über das werblich-kommunikative Paradigma hinaus, definiert das Web neue Ideen und Geschäftsmodelle. Ach, und dazu macht es auch noch Spaß. Meiner Meinung nach wird aber die Frage nach digitaler Strategie falsch diskutiert.

Im letzten Jahr habe ich mit einigen Kollegen den ersten Digital-Workshop für Planner in Deutschland ausgerichtet. Die Fragestellung lautete damals: Gibt es digitale Strategie und wenn ja, was macht sie anders? Unsere Antwort damals wie heute: Ja, es gibt digitale Strategie. In vielem ist Digitalstrategie mit dem klassischen Planning eng verwandt, während sie sich in einigen Bereichen massiv unterscheidet. Und meines Erachtens nach liegt der größte Unterschied in den zwei zentralen neuen Dimensionen, die das Web ins Marketing gebracht hat: Echtzeit und Feedback.

Echtzeit und Feedback sind toll. Beide machen nicht nur unsere Welt spannender, sondem auch unsere Jobs als Strategen. Denn mit beiden Faktoren sind die Zeiten sind vorbei, in denen Planning im Elfenbeinturm stattfand. Der Endkude ist nicht mehr nur ein Abstraktum. Sondern ein lauter, begeisterter, enttäuschter und manchmal auch überraschter User, der – man mag es glauben oder nicht – teilweise sehr andere Dinge wahrnimmt und kommuniziert als man manchmal denkt. Übrigens rund um die Uhr und am Wochenende.

 

Das Ende der Perfektion

Und nicht nur das – unsere Kunden haben plötzlich auch Ideen, die sich auf Produktentwicklung auswirken können. Oder mit denen wir unsere Prozesse als Agentur verbessern. 750 Millionen dauerquatschende Social Media User werden dem besten Kreativ- oder Consultingteam der Welt in Sachen Ideen immer überlegen sein. Sorry, das ist so.

Die Rolle des Strategen verändert sich derzeit parallel zur Rolle der Agentur per se und der vermeintlichen Digitalisierung aller Lebensbereiche. Nach vielen Diskussionen stelle ich heute fest: Die Frage, ob digitale oder integrierte Agenturen ‚den Lead‘ haben, stellt sich gar nicht mehr. Das Konzept Leitmedium hat abgedankt. Zurück bleiben klassisch, digital oder integriert exekutierte Ideen, die heute mit Konversationen betankt und angetrieben werden.

Und damit kommt noch ein zentraler Paradigmenwechsel auf uns zu: In einer Welt der Echtzeitkonversation können wir auch nicht mehr den gleichen Anspruch an unser Endprodukt haben wie zu einer Zeit, in der wir unser Ziel die große Hollywood-Botschaft war. Echtzeit-Planung heißt: zuhören, messen und nachjustieren.

20 kleine, unperfekte Marketing-Vehikel auszusenden, zuzuhören und in Echtzeit zu optimieren, mag uns fremder erscheinen, als auf das perfekte Produkt hinzuarbeiten. Dennoch: Wenn wir neugieriger werden, mehr lesen, mehr ausprobieren, mehr Fehler machen und dies vorher unseren Marken-Kunden kommunizieren, werden wir mehr denn je im spannendsten Beruf der Welt arbeiten. Man denke nur an die hervorragende, schnelle und wahnsinnig erfolgreiche Old Spice Kampagne, die mitnichten eine Social Media Kampagne war, sondern eine konversationell getriebene klassische Werbemaßnahme im digitalen Raum.

Jahrzehntelang haben Planner das Beste getan, um auf Basis von Zahlen und Erfahrung die richtige Strategie vorzulegen. Mehr derm je glaube ich aber, dass diese universelle Wahrheit mehr und mehr durch Mikrokonversationen im Jetzt definiert wird. Ich bin überzeugt, dass diese neue Realität neue Fähigkeiten und viel mehr Lust am Über-den-Tellerrand-Schauen abverlangt. Aber nicht nur um neue Skills geht es. Es geht um ein neues Verständnis von Planning.

 

Digital getrieben ist nicht digital

Gerade in den letzten Jahren wurde viel über das Gegensatzpaar klassische vs. digitale Strategie gesprochen. Was wir uns darunter vorstellten, waren zwei Strategien, die einmal Pate für eine TV-Kampagne und einmal für eine Microsite oder Facebook Page stehen konnten. Wie kurz gedacht: Denn der Output muss heute selbstverständlich ganzheitlich gedacht und integriert sein.

Es geht vielmehr darum, dass eine zeitgemäße Definition von Strategie nicht digital, aber digital getrieben sein muss – nicht der Output von, sondern der Input für Strategie aus Einsen und Nullen bestehen muss. Planner selbst sollten ihr möglichstes tun, eine Welt zu verstehen, vorzudenken und zu messen, die im Web Konversationen führt. Klar, auch in unserer Zunft wollen das noch nicht alle Kollegen glauben. Aber sicher ist, liebe Kollegen, die ihr das nicht glaubt: Das soziale Netz ist kein Spuk. Kommt doch einfach mit. Es tut nicht weh.

 

 

Foto: “Abgeknibbelt” | Revanche | photocase.de

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