Vom Need zum Nudge – Warum Verhaltensdesign die eigentliche Kommunikationsaufgabe ist

Von Stefan Baumann von STURM und DRANG, Hamburg

 

Die Welt ist voll von guten Vorsätzen, vernünftigen Einstellungen und wahren Überzeugungen. Einzig das wirkliche Verhalten hält sich nicht an die gut gemeinten Absprachen. Viele Konsumentscheidungen werden von einem Dilemma geprägt. Jede Entscheidung ist das Ergebnis eines inneren Wettstreits zwischen Want- und Should-lmpulsen – und dass sich oft genug das Want durchsetzt, ist ein ganz normales menschliches Verhalten. Untersuchungen der Harvard Business School zeigen, dass Kaufentscheidungen oft zeitabhängig getroffen werden: beim Kurzfristigen gewinnt das Want, beim Langfristigen gewinnt das Should.

Beim Bestellen von Lebensmitteln hängt die Auswahl z.B. davon ab, wie viel Zeit noch bis zum Verzehr ist. Wenn etwas sofort oder bald geliefert und gegessen wird, entscheidet sich der Kunde eher für die Vollmilchschokolade. Je länger die Zeit bis zum Verzehr ist, desto höher sind die Chancen für das Vollkornbrot. Derselbe Kunde handelt ganz unterschiedlich und teilweise in deutlichem Widerspruch zu seinen ‚offiziellen‘ persönlichen Präferenzen. Der Konflikt zwischen Want und Should spiegelt einen Teilaspekt der Funktionsweise des menschlichen Gehirns wider, der von den Wirtschaftswissenschaften lange Zeit vernachlässigt wurde.

 

Automatisches vs. reflektierendes System

Ein Großteil unserer Entscheidungen findet ohne unsere Zustimmung statt. Dieses Verhalten wird von dem noch vergleichsweise jungen Forschungsbereich der Verhaltensökonomie untersucht, der die Defizite der Wirtschaftswissenschaften auf dem Gebiet der Verhaltenslehre auszugleichen versucht. Richard Thaler und Cass R. Sunstein unterscheiden in ihrem Buch ‚Nudge‘ ein „automatisches“ und ein „reflektierendes“ System. Das automatische funktioniert unkontrolIiert, mühelos, assoziierend, schnell, unbewusst und ist erlernt. Das reflektierende ist im Vergleich zwar kontrolliert, aber benötigt immer eine bewusste Willensanstrengung, es arbeitet langsamer, operiert deduzierend und ist regelgeleitet.

Thaler/Sunstein postulieren, dass häufig ein kleiner ‚Nudge‘ ausreicht, um dem reflektierenden System bei der „besseren Wahl“ zu helfen und sich trotzdem frei in der Entscheidung zu fühlen. Es geht also um die optimal konzipierte Entscheidungsarchitektur, die das Verhalten bestimmt und den ‚Schubs‘ gibt.

Ein Produkt kann noch so gut den Bedürfnissen der Konsumenten entsprechen oder preislich optimal positioniert sein – oft wird die Kaufentscheidung von etwas anderem bestimmt. Der britische Kognitionswissenschaftler Nick Charter hat eine Beobachtung gemacht, die er mit dem Slogan benennt: „decisions first, desires later“. Statt ihre Konsumentscheidungen an ihren Bedürfnissen auszurichten, ist es oft genau umgekehrt: Erst nach dem Kauf fabriziert das Bewusstsein der Kunden nachträglich eine Begründung. Gerade in Zeiten digitaler Kommunikation und sozialer Medien (hohe Einflusseffekte von ’significant others‘) definiert das Verhalten immer häufiger die Einstellung und nicht umgekehrt. Es kommt zum Paradox: Die Leute wissen genau was sie wollen, aber erst nachdem sie sich dafür entschieden haben. Und noch etwas legen die verhaltensökonomischen Studien als Schluss nahe: Vielmehr als die Konsequenzen einer Entscheidung bestimmt der Rahmen, in dem die Entscheidung fällt darüber, welches Verhalten gezeigt wird.

 

Das richtige ‚Framing‘ entscheidet

Genug Stoff, um darüber nachzudenken, welche Rolle Kommunikation und Werbung heute leisten kann und muss in einem neuen verhaltensökonomischen Paradigma. Das richtige ‚Framing‘ der Kommunikation entscheidet stärker über das korrespondierende Verhalten als die strategisch so mühsam erdachten Botschaften. Dem Design der Kommunikationssituation kommt mehr Bedeutwlg zu als dem Entwickeln der Werbemittel.

Werbeagenturen, die sich in Zukunft als ‚Change Agents‘ definieren, denken auch verstärkt in kommunikativ begleiteten Interventionen. Kommunikation kann dann nicht mehr isoliert von Interventionen gesehen werden, sondern als Teil des intendierten Veränderungsprogramms. Wichtiger als Bedürfnisse zu erforschen, wird es werden herauszufinden, welche Rituale und Verhaltenskurzschlüsse sich Konsumenten bahnen und welche unbewussten Vergleichsmaßstäbe sie in einer bestimmten Situation anlegen. Ist ein Latte Macchiato für 4 € teuer? Generell sicher, in einem Starbucks Cafe anscheinend nicht.

Konsum ist ohne den Konsumkontext immer schwerer zu verstehen. Diese Verhaltensänderung lässt sich als ein Programm entwickeln, das in verschiedene Stufen das neue Verhalten im Sinne des Markenverhaltens einübt und verfestigt. Häufig ist der Widerstand gegen eine Verhaltensänderung nämlich größer als die flüchtige Begeisterung für ein neues Produkt oder eine Marke.

Wir müssen also das neue Verhalten mit vermarkten. Hilfreich ist dabei die sogenannte ‚Gleicher Gleichung‘ (1987): Sie besagt, dass die Unzufriedenheit mit einer bestimmten Situation (D) multipliziert mit der Visionskraft einer Alternative multipliziert mit ersten leichten Veränderungsschritten größer sein muss als der Widerstand, sich zu verändern. Um diese Energie aufzubringen muss Kommunikation aber nicht nur die Vision bewerben, sondern auch die anderen beiden Faktoren aktiv bearbeiten.

 

 

Foto: „Eingeschränkte Möglichkeiten“ | David Dieschburg | photocase.de

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