Strg + Alt + Entf – über den berauschenden Charme des Reboots

von Vincent Schmidlin, Partner der Scholz & Friends Group und Managing Director der Scholz & Friends Strategy Group

 

Gerade einmal 32 Seiten ist sie dick, die Streitschrift des 93-jährigen Résistancekämpfers Stéphane Hessel ‚Empört Euch!'(1), und doch findet das Heftchen dieser Tage reißenden Absatz. In seinem Plädoyer ruft Hessel die junge Generation dazu auf, „das Erbe der Résistance und ihre Ideale lebendig zu erhalten und weiterzugeben.“(2) Gleichgültigkeit ist seiner Ansicht nach „die schlimmste Einstellung. […] Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.“(3)

 

Von der Wut zum Mut

Empörung und der Wunsch nach einem Neubeginn sind derzeit angesagt. Die deutsche Gesellschaft für Sprache wählte ‚Wutbürger‘ zum Wort des Jahres 2010, Doch dort, wo es lediglich bei Empörung bleibt, wird sich nicht viel verändern: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, schrieb Hermann Hesse in seinem bekannten Gedicht ‚Stufen‘.

Warum tun wir uns dann oft so schwer, einen Neubeginn als Chance zu begreifen und die Lust am Revolutionären zu genießen? – Ohne Zweifel haben die Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise misstrauisch gemacht, Zweifel geweckt an glänzenden Verheißungen und Verlockungen. Mehr als sonst greift in Krisenzeiten der Reflex der Fehlervermeidung. Aus

Bequemlichkeit oder Feigheit bzw. Angst davor etwas falsch zu machen, wird an vermeintlich Altbewährtem festgehalten. Es wird kopiert und dupliziert. Das ist zwar menschlich, führt jedoch zu Monotonie, Verschleiß, Stillstand. Ob in Politik, Sport oder Wirtschaft, Erfolge entstehen aus Mut und unorthodoxen Methoden.

 

Erfolge durch Flops und Löffeltechnik

So wie Dick Fosbury, der im Finale der olympischen Spiele 1968 als Einziger die 2,24 m übersprang – und das in einem spektakulären, völlig neuen Stil: schneller Anlauf in einem Bogen, Rumpfdrehung bei den letzten Schritten und Lattenüberquerung rücklings mit dem Kopf voran. Dieser später nach ihn benannte ‚Fosbury-Flop‘ war das Ergebnis von Experimenten mit einer Reihe von Techniken, wobei Fosbury sogar behauptet, dass der Anlauf in einer Kurve dadurch entstanden sei, dass ihm beim Training im heimischen Garten ein Baum den geraden Weg zu Latte versperrte.

Unorthodox auch der bis dato völlig unbekannte US-Amerikaner Michael Chang, der im Wimbledon-Finale 1989 auf den Weltranglisten-Ersten Ivan Lendl traf und im vierten Satz, bei einem 1:2-Rückstand, mit Wadenkrämpfen zu kämpfen hatte. Doch anstatt sich lendl geschlagen zu geben, begann er, den Ball von unten aufzuschlagen. Mit dieser ‚Löffeltechnik‘ nahm er die Geschwindigkeit aus dem Spiel und brachte den Tennis-Terminator Lendl völlig aus dem Konzept, der sich schließlich sogar mit Schiedsrichter und Publikum anlegte. Vergebens, Chang siegte, schaffte es sogar bis ins Finale und ging als jüngster Sieger eines Grand Siam-Turniers in die Geschichte ein. Ivan Lendl und die Gegner des Herrn Fosbury wurden die Opfer eines fundamentalen Re-Boots auf ihrem eigentlich so sicheren und angestammten Terrain.

 

Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren

Doch für einen echten Re-Boot braucht es mehr als eine unorthodoxe Idee oder ein überraschendes Verhalten. Für einen Neuanfang braucht es neben etwas Wut und Mut auch eine unumstößliche Überzeugung und die Bereitschaft, ein grandioses Scheitern in Kauf zu nehmen. Ende letzten Jahres machte sich Ex-Medienmacher Georg Kofler auf, die Energiebranche zu revolutionieren. Als ‚ADAC der Energiesparer‘ deklarierte er das ambitionierte Projekt Kofler Energies Club, das Verbrauchern für einen Jahresbeitrag von 75 Euro günstigen Strom und Hilfe beim Energiesparen bieten sollte. Bereits für 2012 rechnete er mit einer Million Kunden und einer Milliarde Umsatz, allein die großangelegte Werbekampagne kostete vier Millionen Euro. (4)

 

 

2011 – Deutschland rebootet

Anfang Februar kam dann das Aus, da die reale Entwicklung weit hinter den ambitionierten Erwartungen zurückgeblieben war. Kofler kommentierte seine Niederlage folgendermaßen: „So ein Flop geht natürlich gegen die Sportlerehre. Es ist wie ein großes Tennismatch, das Sie zu Null verlieren und dies auch noch vor großem Publikum. Das nervt .. „, um dann hinzuzufügen:“ … ist aber kein Desaster.'(5)

Nachdem die Krise mit einem blauen Auge überstanden scheint, wird auch in Deutschland wieder Fahrt aufgenommen. Die Aufschwungs-Prognosen überschlagen sich, das Personal-Karussell dreht schneller, und es gibt zahlreiche Firmenneugründungen, aber auch etliche Häutungsprozesse. Medienhäuser, Werbetreibende und Agenturen die in den letzten beiden Jahren über rückläufige Leserzahlen, gekürzte Budgets und 08/15-Kreationen lamentiert haben, zeigen Kampfgeist. Auch Sorge wird Mut: Jetzt geht’s los!

 

2011 – A-genturen werden zu I-genturen

Frische Luft im Werbemarkt: Die Kommunikationsetats erleben ihr Comeback. Es gibt wieder Pitches, viele Pitches, groß und klein. Und zahlreiche Agenturen nutzen den Augenblick, um sich mit der gewandelten Marketingrealität zu re-synchronisieren. Der schmerzhafte Entwicklungsprozess, der bei mutigeren Agenturen in den letzten Jahren wlter Höchstdruck stattgefunden hat, zahlt sich aus. Trotz und Dank massiven Agentursterbens glückt die Evolution. Wem es nicht gelungen ist zu mutieren, seinen Organismus an die neuen Umgebungen anzupassen, gehört bald zu den Dinosauriern. Aus dem Humus spezialisierter A-genturen wachsen neue Fullservice I-genturen: integriert, interaktiv und in Echtzeit.

 

2011 – Medienhäuser bekommen Luft

Die Verlagsindustrie wittert eine Chance, sich aus dem Würgegriff Apples zu befreien. Führte beim Vertrieb digitaler Inhalte bislang kaum ein Weg an Apple vorbei, kommt nun mit ‚Google One Pass‘ und ‚PagePlace‘ von der Deutschen Telekom Bewegung in den Markt. Die beiden Services bieten Medienuntemehmen die Möglichkeit, ihre inhalte ohne Beschränkung auf bestimmten Endgeräten online zum Kauf anzubieten und ihren digitalen Content ohne Kontrollverlust über Inhalte llild Kundendaten zu vermarkten.(6) Möglicherweise der Beginn einer neuen Machtbalance. Und neuer Chancen. Genau der richtige Augenblick, um sich redaktionell und gestalterisch neu zu erfinden und als Metamedienmarke zu definieren. Genau der richtige Augenblick für einen Reboot. Genau der richtige Augenblick für eine neue ’new business‘.

 

(1) Empört Euch!, Stéphane Hessel, Ullstein 04.02.2011
(2) Empört Euch!, Stéphane Hessel, Ullstein 04.02.2011
(3) Empört Euch!, Stéphane Hessel, Ullstein 04.02.2011
(4) Georg Koföer, der König der Kiste, Steffen Heinzelmann, Sueddeutsche.de 08.06.2010
(5) DIE ZEIT, 24.02.2011
(6) HORIZONT.NET, 01.03.2011

 

 

Foto: „Tastatur“ | DoLaubach | photocase.de

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