Jenseits des Papiermondes

Die gute alte Markenstrategie hat in einer interaktiven Welt als fest definierter Verhaltensplan ausgedient. Konsumenten erwarten immer häufiger, mit Unternehmen in Kontakt treten zu können – auch jenseits des ersten Werbeversprechens. Da fällt es schnell auf, wenn die Strategie hinter der Marke flach ist wie ein bunt bemalter Papiermond.

Von Wolfgang Steiner, Head of Marketing Strategy & Analysis bei SapientNitro Deutschland

 

Der Markenstrategie droht Bedeutungsverlust just in einer Zeit, in der das stimmige Kundenerlebnis mit der Marke als entscheidender Wettbewerbsvorteil und Differenzierungsfaktor gilt. Ein Paradoxon? Nein, denn die Vorzeichen von Markeninszenierung verändern sich mit dem Vormarsch mobiler internetfähiger Endgeräte. Mit ihnen können – und wolIen – Konsumenten spontaner und umfassender Kontakt zu Marken aufnehmen.

Zugriff auf alles, von überall und zu jeder Zeit: Heutige Mobiltelefone lassen die digitale Welt mit der physischen Welt verschmelzen. Durch TabletComputer wird das Surfen zum entspannten Couch-Erlebnis – ein Vorgeschmack auf die absehbare Konvergenz von TV und Online.

Damit steigen nicht nur die Ansprüche der Kunden. Auch steigt die Anforderung an die Markenführung, das eigene Reden mit dem entsprechenden Tun in Einklang zu bringen. Schließlich umfasst das Markenerlebnis für den Kunden nicht nur die Kommunikation, sondern – noch viel empfindlicher – das Kauferlebnis bis zum erlebten Kundenservice. Das war eigentlich schon immer so, aber durch die (mobile) digitale Welt fallen Unstimmigkeiten schneller und unangenehmer auf, als das vielleicht noch in früheren Zeiten der Fall gewesen sein mag.

Vor allem anderen aber schafft die Konvergenz von Markeninszenierung und Markentransaktion für Unternehmensorganisationen epochale Chancen, das Verhältnis von Marken zu ihren Kunden in neue Höhen zu entwickeln: direkter, persönlicher, unmittelbarer – und mit sofortiger Rückkoppelung auf Akzeptanz und Nachfrage durch die Verbraucher.

Damit diese interaktive und dynamische Marke-Kunden-Beziehung ausreichend abgebildet und entwickelt werden kann, braucht die traditionell statisch und in eine Sender-Empfänger-Richtung ausgelegte Markenstrategie die Veredelung mit Elementen aus der User Experience (UX) bzw. Customer Experience (CX).

Aus der IT- und Software-Anwendung entstanden, konzentriert sich UX darauf, das Informationsangebot  und die Funktionalitäten von Websites menschengerechter zu gestalten und deren Verwendung zu optimieren. UX hat sich zu CX weiterentwickelt – in der Erkenntnis, dass Kundenbeziehungen deutlich komplexer und anspruchsvoller darzustellen sind als neutrale Anwender-Maschine-Beziehungen. Beide Disziplinen verfügen dabei über Eigenschaften, die in der klassischen Markenstrategie-Methodologie so sehr fehlen: 1. Dynamik der Prozesse. 2. Dimension der lnteraktivität. 3. Fähigkeit zur Iteration. 4. Flexibilität, sich fließend und in alle Richtungen zwischen Kommunikations- und Informationserlebnis, Kauferlebnis und Service-Erlebnis zu bewegen.

Dass CX kein potenzielles Surrogat für Markenstrategie ist, liegt daran, dass ihr die Dimensionen der Richtungsweisung und Bedeutungsstiftung fehlen. CX ist es nicht gewohnt, eigene Positionen zu bestimmen und einzunehmen, um sich aktiv von Wettbewerbern zu unterscheiden. Es fehlt ihr das Element der Führung von Marke und Verbraucher. Erst im gemeinsamen Zusammenspiel entwickeln CX und Markenstrategie ungekannte neue Kräfte. In einer Welt, in der man immer weniger zwischen digitaler und physischer Welt unterscheiden kann,wird das zum entscheidenden Faktor in der Markenführung.

Ob man die Kürzel-Evolution von UX zu CX bis zu BX (Brand Experience) fortschreiben will, bleibt dahingestellt. Markenführung formt Geschäftsprozesse – soviel potenzielle Einflussmöglichkeit der Markenstrategen war noch nie. Es geht nun darum, diese Chance zu nutzen, denn die Konsumenten lassen sich nicht länger mit Papiermonden abspeisen.

  
Foto: „kinder malstunde“ | markusspiske | photocase.de

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