Was wir von schwulen Pinguinen lernen können

(Oder was man bei Marktforschung bedenken sollte)

Vor einigen Jahren sorgte der Bremerhavener Zoo für Schlagzeilen. Im Gehege der Humboldt-Pinguine gab es keine Weibchen und so fanden sich sechs männliche Pinguine zur Brutzeit paarweise zusammen und watschelten balzend durch ihr Gehege. In Ermangelung von selbst gelegten Eiern bebrüteten die schwulen Pinguine ersatzweise einfach ein paar Steine.

Von Tim Keil, Philipp und Keuntje, Hamburg

 

Für mich ist diese Geschichte ein Beispiel dafür, wie sehr der situative Kontext das Verhalten prägt. Eine Tatsache, die bei der Planung, Durchführung und Interpretation von Marktforschung zu selten berücksichtigt wird. Und um es gleich vorab zu sagen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen Marktforschung. Ganz im Gegenteil: Richtig ‚geplant und durchgeführt, kann sie helfen, interessante Insights ans Licht zu bringen. Nur leider ist das meiner Erfahrung nach eher selten der Fall. Daher kann es sinnvoll sein, sich einige Dinge zu vergegenwärtigen.

Mit Marktforschung soll unter anderem der Wirkmechanismus von Kommunikation objektiv durchleuchtet und rational erklärt werden, um Unsicherheiten zu beseitigen und die Idee zu optimieren. Die Ergebnisse werden üblicherweise in einer Powerpointpräsentation zusammengefasst. Meistens recht schlüssig und logisch nachvollziehbar. Was aber auch wiederum durch den Kontext der Form begründet sein kann, denn mit Powerpoint lässt sich vor allem eine lineare Argumentation aufbauen.

Dabei wird allerdings auch einiges weggelassen. Zum Beispiel, in welchem Kontext die Ergebnisse überhaupt  entstanden sind. Wobei wir wieder bei den Pinguinen sind, die vielleicht auch nur in Ermangelung weiblicher Pinguine ans andere Ufer gewechselt sind. Etwas, das in ihrer natürlichen Umgebung vermutlich recht unwahrscheinlich ist.

 

Marktforschung im unnatürlichen Kontext

Auch Marktforschung findet fast ausschließlich in einem relativ unnatürlichen Kontext statt. Deswegen muss die Frage erlaubt sein, warum so unkritisch davon ausgegangen wird, dass Marktforschungsergebnisse auch die Realität widerspiegeln.

Nehmen wir einfach mal die beliebte Gruppendiskussion. Es gibt diverse Gründe, warum ich bei den Schlussfolgerungen aus einer Gruppendiskussion oft skeptisch bin. Jeder, der schon einmal eine Gruppendiskussion gesehen hat, kennt diese sterile Atmosphäre. Es ist recht offensichtlich, woran das liegt.

Die Teststudios liegen meist in Innenstadtlagen in klassischen Bürogebäuden und sind eigentlich nichts anderes als eine Ansammlung von Konferenzräumen mit Überwachungsequipment. An den Wänden sind Kameras angebracht und über dem Konferenztisch mit den belegten Brötchen baumelt ein Mikrofon. An einer Seite ist meistens ein Einwegspiegel, hinter dem sich der Raum für Kunden- und Agenturvertreter befindet. Keine besonders diskussionsanregende Atmosphäre.

Von Marktforschern wird zwar immer wieder betont, dass die Teilnehmer schnell vergessen, wo sie sich befinden, sobald sie miteinander diskutieren. Das mag sein, allerdings werden sie häufig durch die Geräusche hinter dem Spiegel, wo Agentur und Kunde sich über ihre Konsumenten lustig machen, schnell daran erinnert. Und nicht überraschend sind einige Teilnehmer dann für den Rest der Runde recht wortkarg.

Dann gibt es noch den zeitlichen Kontext, der oftmals nicht berücksichtigt wird, aber zumindest bei einigen Themen Auswirkungen auf die Diskussion haben kann. Wer nach einem anstrengenden Arbeitstag abends zu einer Gruppendiskussion erscheint, wird es wahrscheinlich  schwierig finden über seine Frühstücksgewohnheiten zu diskutieren. Das ‚Mindset‘ ist einfach ein anderes. Und wer nachmittags mit ein paar wildfremden Menschen über hochprozentige Spirituosen sprechen soll, hält sich wahrscheinlich auch ein bisschen bedeckter: Wer weiß, was die anderen über einen denken. Sowieso ist anzunehmen, dass viele Teilnehmer ganz andere Dinge im Kopf haben, als für ein paar Euro über Pflegeproteine im Shampoo oder JoghurtkuIturen zu diskutieren.

 

Mafo-Touristen übernehmen die Führung

Wobei es natürlich auch Ausnahmen gibt. Sogenannte Marktforschungstouristen, die aus irgendeinem Grund anscheinend Spaß an diesen Veranstaltungen haben und die man immer wieder trifft. Man erkennt sie leicht, denn sie haben schon so oft an Gruppendiskussionen teilgenommen, dass sie sich das Fachvokabular angeeignet haben. Sie denken, dass sie eingeladen worden sind, um alles zu kritisieren oder die Gesprächsführung zu übernehmen. Schlimmstenfalls sogar beides.

Auch der Sprach-Kontext beeinflusst das Verhalten. Gute Gesprächsleitfäden orientieren sich an der Sprache von Otto Normalverbraucher. Häufig wimmelt es aber nur so von Marketingfloskeln. Doch wie soll jemand vernünftige Antworten geben und etwas zum Gespräch beitragen, welcher die Frage nicht mal versteht?

Wer weiß schon wirklich, was mit einem SUV gemeint ist? Oder mit ‚Functional Food‘? Viele solcher Kategoriebegriffe entstehen, damit Unternehmen ihre Produkte besser voneinander unterscheiden können. Sie gehören demnach auch nicht in die Marktforschung, tauchen dort aber immer wieder auf.

Das sind nur einige der offensichtlichen Probleme, die den Kontext einer Gruppendiskussion und damit auch deren Ergebnisse beeinflussen. Wie bei den Pinguinen im Bremerhavener Zoo werden wir wahrscheinlich auch nie wissen, wie sehr der Kontext ein bestimmtes Verhalten beeinflusst.

Nicht wissenschaftliche Objektivität sollte das Ziel sein, sondern alltägliche Relevanz. Und dafür lohnt es  sich, die gewohnten Methoden der Marktforschung in Frage zu stellen.

 

Wohnzimmer statt Konferenzraum

Warum nicht mal in einem Wohnzimmer oder einer Küche statt in einem Konferenzraum diskutieren? Warum sich nicht mal einfach dazusetzen und gemeinsam mit den Verbrauchern ein Bier trinken, statt sich hinter Einwegscheiben zu verstecken und Sushi zu bestellen? Warum nicht zumindest mal versudlen, den Kontext, in dem Marktforschung stattfindet, so weit wie möglich natürlich zu gestalten? – Das könnte zu überraschenden Erkenntnissen führen.

So wie beim Bremerhavener Zoo, der extra ein paar schwedische Pinguindamen einfliegen ließ und erst dadurch feststellte, dass Homosexualität auch bei Pinguinen normal sein kann. Denn zwei Pinguine blieben lieber ein schwules Paar. Sie adoptierten und bebrüteten sogar ein von ihren Artgenossen verstoßenes Ei. Es bildeten sich aber auch wieder heterosexuelle Paare. Und das zeigt letztendlich was es bedeutet, einen natürlichen Kontext herzustellen: Egal ob Mensch oder Pinguin, jeder sollte die Möglichkeit haben, sich seinem Naturell entsprechend zu verhalten. Auch in der Marktforschung.

 

 

Foto: „frackträger“ | ZWEISAM | photocase.de

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