Ni hao Strategieverständnis!

Unentwegt schielen wir nach China. Sei es beim Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik oder beim Besuch des chinesischen Schnellimbisses gegenüber. Doch was können wir Strategen von der Denkweise und dem Strategieverständnis der zweitgrößten Volkswirtschaft lernen? Ein Vorschlag.

Von Tobias Walter, Strategischer Planer, Jung von Matt

 

Am Anfang von neuen Gedanken liegt oft ein gemeinsamer Ausgangspunkt. Folgend der Versuch, das westliche Strategieverständnis zu definieren: In seinem Buch ‚Über die Wirksamkeit‘ (1996) bedient sich François Jullien (französischer Philosoph und Sinologe) der europäischen Kriegswissenschaft. Er erkennt dabei vor allem in den Aufzeichnungen des preußischen Generals Carl von Clausewitz das westliche Strategieverständnis und die Bemühung, „den Krieg in Europa theoretisch zu fassen.“

 

Das westliche Strategieverständnis

Bereits früh kommt Clausewitz zu dem Schluss, dass die theoretische Kriegsführung stark von ihrer praktischen Ausführung abweicht, und beginnt, dem idealisierten, theoretischen Archetyp des ‚absoluten Krieges‘ den ‚wirklichen Krieg‘ gegenüberzustellen. In dieser Denkweise sieht Jullien das westliche Denken und Handeln bestätigt: „Clausewitz kann sich nicht vorstellen, Krieg ohne einen ‚Kriegsplan‘ zu führen, der vorher festgelegt wird.“

Die praktische Implementierung einer theoretischen Strategie definiert Jullien als „Zweck-Mittel Beziehung“. Ausgehend von einem als Ideal konzipierten Zweck, sucht der westliche Stratege passende Mittel, die das Eintreten des theoretischen Modells fördern oder weitergehend sogar erzwingen. Allerdings erkennt auch Clausewitz, dass gerade im Krieg die äußeren Einflüsse einen entscheidenden Beitrag zum Verlauf dessen leisten. Er bezeichnet diesen Beitrag in seinem wohl bedeutendsten Werk ‚Vom Kriege‘ (1832) als „Friktion“ und entlehnt diesen Begriff der wissenschaftlichen Mechanik, der dort die Kraft der Reibung an der Grenzfläche zweier Körper bezeichnet. Schlammige Wege, korrupte Söldner und weitere Einflussfaktoren lassen Clausewitz zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Idealform sich nicht als Kopie in die Wirklichkeit übersetzen lässt.

 

Das chinesische Strategieverständnis

Im Gegensatz zur westlichen Auffassung kennt das chinesische Strategieverständnis keinerlei Aufteilung zwischen theoretischer Erkenntnis und idealem Handeln. Vielmehr konzentriert sich der chinesische Stratege auf den Verlauf der Dinge und versucht in einer objektiven Analyse und in Echtzeit diejenigen Faktoren aufzuspüren, deren geschickte Kombination die Situation zu seinen Gunsten beeinflusst.

Nach der Auffassung Julliens verzichtet der chinesische Strategiegedanke sogar auf eine präskriptive Zieldefinition, welche jeder westlichen Planung axiomatisch zugrunde liegt. Den Kern der chinesischen Strategie bilden vielmehr zwei Begriffe – „einerseits der Begriff der Situation oder Konfiguration [ … ] und andererseits der korrespondierende Begriff des Potentials“ (Jullien, 1996, S. 33). Jullien definiert für das Zusammenspiel dieser bei den Komponenten den Begriff des „Situationspotentials“. Dabei richtet der chinesische Stratege im Vorfeld die Situation bereits so ein, dass sie ihm ein Maximum an Ertrag in Aussicht stellt. Unterschieden werden dann verschiedenste Potentiale: Neben dem „moralischen Potential“ kommen so auch das „topographische“ sowie das Potential durch „Anpassung“ zum Tragen.

 

Westliches und chinesisches im Vergleich

Eine Situation, ihre umstandsabhängigen Faktoren und resultierenden Potentiale müssen im Vorfeld durch provozierende Fragen eingegrenzt und durchdacht werden. Dem chinesischen Selbstverständnis liegt zugrunde, dass die Faktoren die Situation nicht als Nebensache begleiten, sondern das Potential erst ermöglichen. So lässt sich im weiteren Verlauf dasjenige Potential ausmachen, welches man nur auszunutzen braucht, um die „antagonistische Situation“ zum eigenen Vorteil zu erschließen. Da dieses „sich unaufuörlich verändert“ (Jullien, 1996, S. 39), gilt es, sich diesem im Verlauf der Situation stetig anzupassen.

Als gutes Vergleichsbeispiel ist an dieser Stelle die Wetterlage auf dem Schlachtfeld zu nennen. Während der westliche Stratege seinen strategischen Schachzug bereits Tage vorher durchdacht hat, nutzt sein chinesischer Kontrahent erst am Tage der Schlacht das regnerische Wetter als Faktor – welches ihm das ‚topographische Potential‘ ermöglicht – und lässt sein Regiment abseits schlammiger Wege in die Flanke des Gegners marschieren.

Da sich chinesische Strategen erst gar nicht auf einen theoretischen Plan und die daraus resultierende ‚ZweckMittel-Beziehung‘, also den störenden Regen am Tage der Schlacht einlassen, sieht sich der westliche Stratege auch weiterhin keinerlei Friktion als Gefährdung des Plans ausgesetzt: „Anstatt einen Plan zu entwerfen, der auf die Zukunft projiziert wird tmd zu einem festgelegten Ziel führt, und dann die Verkettung der am besten zur Realisierung geeigneten Mittel zu definieren, geht der chinesische Stratege, wie wir gesehen. haben, von einer minutiösen Einschätzung der im Spiel befindlichen Kräfteverhältnisse aus, um sich auf die in der Situation vorhandenen vorteilhaften Faktoren zu stützen und sie kontinuierlich innerhalb der gegebenen Umstände auszunutzen“ (Jullien, 1996, S. 62).

 

China als Impetus eines neuen westlichen Modells

Grundsätzlich stehen langfristig ausgerichtete Strategien immer in Gefahr, von der Wirklichkeit eingeholt zu werden. Technologische Weiterentwicklungen, Veränderungen der Rahmenbedingungen und Strategieänderungen der Mitbewerber lassen Vorstandsvorsitzende ihre Strategien und Timings im Minutentakt korrigieren. Dennoch wird man es wohl nicht schaffen, das Modell des kurzfristigen chinesischen Strategieansatzes vollends in westliche Prozesse zu integrieren.

Vielleicht ist es tms jedoch möglich, einen Zwischenweg dieser bei den Denkmodelle zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund schlägt Donald N. Sull (Associate Professor of Management Practice, London Business School) vor, den linearen Weg der Stragegiegestaltung durch einen zyklischen Prozess zu ersetzen (vgl. Sull, ‚Closing the gap between strategy and execution‘, 2007). Sull benennt die einzelnen Stufen seines Kreislaufs mit den Oberbegriffen „Making Sense“ (Entwicklung einer objektiven Sicht auf die Situation), „Making Choices“ (Übereinstimmung in Kernbedingungen, um Ressourcen bereitzustellen und Taten folgen zu lassen), „Making Things Happen“ (Gewährleistung, dass Prozessbeteiligte reelle Versprechen geben und diese einhalten) und „Making Revisions“ (Aufspüren von Unregelmäßigkeiten und Uberprüfung der Kernthesen; vgl. Sull, 2007, S. 33). Seiner Meinung nach sollte eine Strategie aus kurzen Prozessschritten mit abschließender Revision bestehen, wobei die Strategie nach diesen Überprüfungen immer wieder neu bzw. aufbauend ansetzt. Nach Sull müssen die identifizierten Prozessfelder in enger Abstimmtmg zueinander stehen und die im Laufe des Strategieprozesses gewonnenen Informationen bei jedem neuen Ansatz zwingend mit einbezogen werden.

Der Gedanke Sulls beruht ähnlich den chinesischen Überlegungen auf der Überzeugung, eine langfristige Strategie nicht als Fahrplan skizzieren zu können. Sull weist zudem auf die Tatsache hin, dass aufkommende neue Informationen bei weitreichenden Planungen häufig nicht mehr akzeptiert und integriert werden, da dadurch der gesamte Plan geändert werden müsste. Genau an dieser Stelle liegt häufig der Denkfehler des langfristigen Strategieprozesses. Denn nicht in einer ungewohnt anmutenden Konzentration auf ein Situationspotential, sondern in der blinden Fixierung auf einen theoretischen Plan liegt die eigentliche Gefahr.

Da sich das Potential einer Situation unaufhörlich verändert, kann es vorher nicht offen gesehen, sondern nur aufgespürt werden, so heißt es in der chinesischen Mythologie. In jedem Augenblick „erkenne ich, was mir nützt, auf Grund dessen, was meinem Gegner schadet“(Wang Xi, in: Jullien, 1996, S. 39).

 

 

Foto: „Successful times!“ | jg_79 | photocase.de

comments powered by Disqus