Können statt Nichtkönnen

Immer öfter werden Menschen mit Behinderung als Markenbotschafter für die Werbung engagiert, und so emanzipiert sich eine ganze Gesellschaftsgruppe aus Isolation und Verdrängung. Doch von einem normalen Umgang mit Behinderten kann weder in der Gesellschaft noch in der Werbung die Rede sein.

Von Vincent Schmidlin, Partner Scholz & Friends Group, Managing Director Scholz & Friends Strategy Group

 

Nicht selten wird die Werbung als Spiegel unserer Gesellschaft bezeichnet, als einflussreicher und aussagekräftiger Kulturfaktor moderner Gesellschaften. Halten wir uns den Spiegel vor: Es leben in Deutschland ca. 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung. Tendenz – durch eine immer älter werdende Gesellschaft – steigend.

 

Spieglein, Spieglein an der Wand

Gemessen an der Gesamtbevölkerung entspricht das einem Anteil von ca. 11 Prozent. Eine nicht unbedeutende Größe. Und trotz der Tatsache, dass behinderte Menschen heute stärker am alltäglichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen, finden wir sie im Spiegelbild der Werbung noch eher selten. Doch es tut sich was!

Immer häufiger setzt die Werbung auf behinderte Menschen als Markenbotschafter und Testimonials. Da wirbt Mario Galla – internationales Topmodel aus Hamburg – für zahlreiche Toplabels und lief 2010 auf der Berliner Fashion Week. Trotz seines Handicaps: Er kam mit einem extrem verkürzten Bein zur Welt und trägt daher eine Prothese.

Oscar Pistorius – süd afrikanischer Sprinter, Weltrekordler und erster behinderter Teilnehmer der Olympiade – ist das neue Testimonial für den Männerduft des französischen Modehauses Thierry Mugler. Oder Raul Krauthausen, der die Glasknochenkrankheit hat, im Rollstuhl sitzt und es mit wheelmap.org – einem Stadtplan für rollstuhlgerechte Orte – bis in einen Werbespot für den Google-Browser Chrome geschafft hat. Diese und weitere Beispiele zeigen, dass Werbung mit behinderten Menschen mehr ist als nur Schock und Provokation.

 

Der Benetton-Urknall

1998 löste das italienische Modehaus Benetton eine Welle der Entrüstung aus, als es auf seinen Werbeplakaten Kinder mit Down-Syndrom zeigte. Dieser Urknall war nötig, um eine Debatte darüber anzustoßen, wie Werbung mit behinderten Menschen funktionieren kann. Allein des Schock-Moments oder Gutmenschentums wegen wirbt heute niemand mehr mit behinderten Darstellern. Genau wie jeder andere Markenbotschafter braucht der Markenbotschafter mit Handicap eine glaubwürdige und überzeugende Rolle.

In Werbewelten und Gesellschaften, wo Glück das höchste Gut ist, erinnern uns Behinderungen daran, wie fragil und zerbrechlich unser Glück doch ist. Das macht uns Angst. Wie groß diese Ängste sind, hängt von der Art und dem Grad der Behinderung ab. Weitestgehend akzeptiert und damit auch gut für den Werbeeinsatz geeignet sind orthopädische, mechanische oder sinnesbezogene Behinderungen. Für diese Behinderungen hat die Medizin Lösungen gefunden, die den Betroffenen ein relativ normales Leben erlauben. Was sicherlich auch ein Grund dafür ist, dass Mario Galla, Oscar Pistorius und viele andere trotz Handicap positive Werbebotschaften übermitteln können, ohne Mitleid bei den Betrachtern zu erzeugen.

 

Die Angst vor der Angst

Weniger akzeptiert hingegen sind Krankheiten, über die man wenig weiß, wie degenerative Krankheiten, genetische Defekte oder psychische Störungen. In diesen Fällen hat die Medizin meist keine Lösungen. Ursachen und Folgen sind häufig unbekannt, und das fürchten wir. Deshalb sind Darsteller wie Raul Krauthausen auch eher selten in der Werbung zu sehen, aber eine zu begrüssende Ausnahme.

In diesem Kontext haben Unternehmen vor allem eines, wenn es um den Einsatz behinderter Testimonials in der Werbung geht: Angst vor den Ängsten der Konsumenten. Doch wenn man bedenkt, dass aus einer Behinderung auch Stärke entsteht, liefert das wiederum den  passenden Stoff für (Werbe-)Rollen. Ein Gedanke, der Mut machen sollte.

 

Alles eine Frage der Rolle

Unter dem Strich ist es also eine Frage der richtigen Rolle. Raul Krauthausen funktioniert im Google-Spot so gut, weil er als Innovator und Wegbereiter, der er nun mal ist, dargestellt wird. Oscar Pistorius überzeugt, weil er als Ausnahmesportler seine Stärke und Willenskraft für die Marke in die Waagschale wirft.

Unternehmen und Marken werben mit ihren besonderen Leistungen, speziellen Fähigkeiten oder ihrem besonderen Typus. Nicht auf ihre individuellen Schwächen reduziert, sind diese zwar sichtbar, aber nicht das konstitutive Merkmal. Ganz im Gegenteil, es steht immer ihr Können, nicht ihr Nicht-Können im Vordergrund. Damit folgt der Einsatz behinderter Testimonials den gleichen Regeln wie der Einsatz anderer Testimonials auch. Jenseits von Schock und Provokation bewegen sie Marken und verleihen ihnen Stärke und Aussagekraft.

Wie es schiefgehen kann, wenn die Rolle nicht passt, hat die Diskussion um den Einsatz von Monica Lierhaus für die ARD-Fernsehlotterie ‚Ein Platz an der Sonne‘ gezeigt. Als toughe Sportmoderatorin in den Köpfen der Leute, nimmt man ihr die neue Rolle nicht ab. Das ist das Risiko, das man eingeht. Und sicher auch der Grund, weshalb Werbung mit behinderten Testimonials immer noch die Ausnahme ist. Unternehmen gehen nur selten das Risiko ein, dass Verbraucher die Werbebotschaft abblocken könnten, weil sie von einem behinderten Darsteller in der falschen Rolle übermittelt wird.

All das zeigt, dass wir von einem unverkrampften Umgang mit behinderten Menschen in der Werbung wie auch der Gesellschaft noch weit entfernt sind. Solange Werber und Unternehmen den Vorwurf des Missbrauchs und der Ausbeutung befürchten müssen, so lange werden Menschen mit Behinderung hauptsächlich in HealthCare-Kampagnen oder in Sozialkampagnen wie für die Caritas zu sehen sein. Hier ist ihr Einsatz unumstritten.

 

Was nicht ist, kann noch werden

Doch die gute Nachricht ist: Werbung mit behinderten Menschen kommt längst ohne Schock-Moment und Gutmenschentum aus. Bei ihrem Einsatz steht nicht ihre Behinderung, sondern stehen sie als Menschen im Mittelpunkt und wie sie mit ihren einzigartigen Fähigkeiten einen Mehrwert für Marke und Unternehmen schaffen können. Und das ist genau der richtige Weg. Denn wenngleich Werbung keinen Sozialauftrag hat, führt der Weg zur Emanzipation behinderter Menschen doch über die Werbung selbst.

 

 

Foto: „alles anders“ | Susann Städter | photocase.de

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