Rhetorik, die Mutter der Strategie

Auf die Frage, was denn ein Stratege so tut, gibt es viele unterschiedliche Antworten. Eine, die mir im Gedächtnis haftet, hat ein befreundeter Planner ungefähr so formuliert: „Ein Stratege arbetet ja schon, wenn er nur aus dem Fenster schaut.“

Von Michael Schneider, moccu GmbH, Berlin

 

Natürlich ist das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen, und ich möchte an dieser Stelle nicht den Eindruck erwecken, dass eine der eher teuren Agenturleistungen im Wesentlichen darin besteht, dass jemand aus dem Fenster schaut. Aber ein bisschen Wahrheit ist schon dran, denn die Entwicklung einer Strategie und ihre didaktische Aufbereitung ist selten möglich mittels Checkliste, auch wenn es einige allgemein anerkannte Instrumente und Tools gibt und die Erwartungen an Strategen sich ähneln: Den Kunden mit Sachverstand begegnen, den Kreativen auf die Sprünge helfen.

Strategie Plannung ist ein Wachstumsmarkt. Unternehmen und andere Organisationen nutzen Agenturen wie externe Abteilungen, die das tun, was die eigene Belegschaft nicht mehr zu leisten imstande ist. Offensichtlich besteht ein erheblicher Beratungsbedarf. Gesucht werden Knowhow, Ideen und Fleißbienen. Es ist bekanntm dass in den vergangenen Jahren die Anzahl sogenannte ‚Think-Tanks‘ sowie die Anzahl der auf dem Markt konkurrierenden Beratungs- und Kommunikationsagenturen gestiegen ist. Ebenso die An zahl der angebotenen Dienstleistungen und verwirrenden Buzzwords. Der Stratege sorgt für Sicherheit und intelligente Stunden, weil er Dinge hinterfragt, die der Klient bereits hin ter fragt, aber womöglich noch nicht beantwortet hat, und dabei ‚auf Augenhöhe‘ argumentiert.

Agenturen sind im Gegenzug darauf angewiesen, die Aufgaben des Kunden zu durchdringen und Lösungen anzubieten, die fernab von ‚viel hilft viel‘ funktionieren: Märkte erschließen, Neue Medien bespielen, Vertriebskanäle entwickeln, Produkte mitgestalten – die Anforderungen werden komplexer und man braucht Fachkräfte dafür. Der wachsende Anteil akademisch ausgebildeter Jungwerber spiegelt diesen Trend. Sieht man sich speziell Stellenausschreibungen für Strategen an, stellt man fest, dass ausschließlich Akademiker gesucht werden. Eine sachgemäße, methodische Aufarbeitung in – frei nach Luhmann – sich „ausdifferenzierenden“ Systemen zahlt sich offensichtlich aus.

Die Fragen, warum Agenturen Strategen einstellen und Unternehmen strategische Leistungen gut entlohnen sollten, wären also an dieser Stelle beantwortet. Strategen lohnen sich, sofern man – in Unternehmen genauso wie in Agenturen – die Meinung teilen möchte, dass Strategie ein wunderbarer Prozessbeschleuniger im weiten Feld der kreativen (klassischen und digitalen) Dienstleistungen sein kann. Ein bissehen mehr Neutralität, ein bisschen mehr Adlerperspektive, und wenn es gut läuft, viel mehr Effektivität und Effizienz.

 

Der Text und seine Performanz

Das eingangs erwähnte Aus-dem-Fenster-Schauen kann auch ein Über-den-Tellerrand-Schauen bedeuten, und in diesem Sinne möchte ich alle geneigten Leserinnen und Leser einladen, die Arbeit eines Strategen auf einem abstrakteren Niveau zu reflektieren. Dafür möchte ich das Vokabular, mit dem Strategie Planning im Daily Business in Verbindung gebracht wird (lnsights, Propositions, Creative Brief, Mafo), außer Acht lassen und den Blick auf eine Disziplin lenken, die heutzutage grob fahrlässig mit einem seichten Soft Skill gleichgesetzt wird: Die Rhetorik, die Mutter der Strategie.

Gemeinhin geht man immer davon aus, dass sich Rhetorik als ars bene dicendi, die ‚Kunst des guten Redens‘, auf den mündlichen Vortrag bezieht. Ein mehr oder weniger einfach erlernbares Regelsystem, das darauf abzielt, ein Publikum zu manipulieren, Lampenfieber zu bekämpfen und irgend wie aus schlechten Rednern gute Redner zu machen. Diese eigentlich stigmatisierende Sichtweise wird der „allerumfassendsten Kunst“ (Augustinus von Hippo) jedoch nicht gerecht.

Im Mittelpunkt der Rhetorik stehen die Erfolgsbedingungen menschlicher Kommunikation. Als eine der ältesten Wissenschaftsdisziplinen hat sie an Relevanz und Beweiskraft nichts eingebüsst, ihre vielseitig funktionalisierbaren Annahmen zum Menschen und seiner Kommunikation besitzen immer noch Gültigkeit und wurden im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte in vielen anderen Disziplinen dankbar aufgenommen.

Aristoteles, einer der Säulenheiligen der Rhetorik, hat in seinem gleichnamigen Hauptwerk erläutert, dass es „nicht ihre Aufgabe ist zu überreden“, sondern er hat sie als Fähigkeit definiert, „das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen“. Die rhetorische Kernkompetenz ist das Identifizieren und Erkennen von Kommunikationsfaktoren, die überzeugend lmd erfolgreich sind und zwar bezüglich des Textes und seiner Performanz. Hier mag sich der eine oder andere Planner an seinen Berufsalltag erinnern.

 

Wohlkalkulierte strategische Handlung

Im Gegensatz zu Sozial- und Sprachwissenschaften geht es der Rhetorik weniger um die Analyse eines kommunikativen Sachverhaltes, sondern mehr um dessen Herstellung. Rhetorik ist eine kommunikative Produktionswissenschaft. Die Situation der Rhetorik ist die öffentliche Kommunikation, das Erfolgskriterium ist die Persuasion, der „eigentlich rhetorische Akt“ (Knape 2000, S. 13). Dementsprechend verläuft der gesamte Prozess rhetorischer Kommunikation als eine wohlkalkulierte strategische Handlung des Redners, die auf eine Verhaltensänderung seines Rezipienten abzielt.

Die Rede an sich sowie ihre Performanz kann dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen. Eine Rede besteht aus einem Text, der über ein Medium gesendet wird. Im Text, einem „geordneten und begrenzten Zeichenkomplex, der in kommunikativer Absicht modelliert ist“ (Knape 2000, S. 107), werden Botschaften platziert, die den Adressaten in der intendierten, kalkulierten Weise erreichen sollen. Medien sind schlicht und einfach Tragflächen für (verbale oder nonverbale) Texte. Ob ich einen Text nun über Plakate, TV-Spots oder Webseiten transportiere, ist in der Phase der Strategieentwicklung zunächst völlig unerheblich. Deshalb denkt der Stratege grundsätzlich kanal-neutral.

Beim Blick aus dem Fenster denkt er drum über ‚das Überzeugende‘ nach, genauer über Wahrscheinlichkeiten. Die Rhetorik verhandelt Wahrscheinlichkeiten. Denn wer die Wahrheit kennt, braucht nicht mehr überzeugt zu werden. Doch nicht alle Menschen auf der Welt arrangieren sich mit nur einer Wahrheit, sonst gäbe es keine Werbung. Werbung als absichtliche Form der Beeinflussung versucht Zielgruppen, davon zu überzeugen, dass ihre Wahl die wahrscheinleich beste ist. Deshalb muss der Werbetreibende – auch der Stratege – kalkulieren, wovon sich die Zielgruppe wahrscheinlich am erfolgreichsten überzeugen lässt. Rhetorisches Kalkül ist für mich eine Kernkompetenz, die mitbringen sollte, um den Anfordenmgen von Marken- und Kommunikationsentwicklungen gerecht zu werden.

Das Überzeugende ist übrigens durchaus diskutabel. Was den einen überzeugt, lässt den anderen völlig unbeeindruckt. Überzeugung ist stark abhängig vom Redegegenstand sowie von dem jeweiligen Sender und Empfänger in seiner jeweiligen Situation. Dies wird anschaulich, wenn man sich den Redegegenstand ‚Atomkraft‘ nimmt und eine Strategie für das Deutsche Atomforum oder die Grünen entwickelt. Kommunikation konstituiert sich aus rationalen, emotionalen und ethischen Teilen. Ein umfassendes Verständnis dieser Konstituenten sowie die angemessene Implementierung im Text führt dann im besten Fall zu einer überzeugenden Rede (Kampagne, Film, Broschüre etc.). Hier sehe ich den Handlungsspielraum und die großartigen Wirkmöglichkeiten des Strategen, der den Kunden mittels Beweisen von der Sinnhaftigkeit der Strategie zu überzeugen versucht und den Kreativen die Pole-Position für die Ausarbeitung ihrer Ideen verschafft.

Die strategische Planung aller Elemente erhöht die Chance, dass die gewünschte Werbewirkung eintritt, und sie beschleunigt den Prozess der Abstimmung zwischen Agentur und Kunde sowie der Entwicklung von überzeugenden Ideen. Eine Wahrscheinlichkeit in einen Sinnzusammenhang einzubetten, der Kunden wie Kreative gleichermaßen überzeugt, und mehr noch: die Zielgruppe überzeugt, ist eine kniffelige strategische Aufgabe. Die sich oftmals nur lösen lässt, wenn man einfach mal aus dem Fenster schaut.

 

 

Foto: „Ansage“ | .marqs | photocase.de

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