MINDFUCK – oder wie uns Komplexität sabotiert

Von Dr. Petra Bock, Dr. Bock Coaching Akademie, Berlin

 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir in der westlichen Welt einen persönlichen Freiheitsgrad erlangt, den keine Generation vor uns erlebte. Wir leben wohlhabender denn je und können unser Leben selbstständig gestalten. Ein Zeitreisender aus früheren Jahrhunderten würde sich aber nicht nur über diese Freiheiten wundern. Sondern auch darüber, wie viele Schwierigkeiten es uns bereitet, mit diesen Möglichkeiten umzugehen. Möglichkeiten oder Potenziale, also quantitative und qualitative Wahl – und Wachstumsformen sind eine Folge von Komplexität und selbst komplex. Und sie werden bisher vor allem als problematisch wahrgenommen.

 

Komplexität als Bedrohung

Tatsächlich ist die subjektiv wahrgenommene Komplexität in den letzten 100 Jahren stark gestiegen. Bereits seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es Klagen über die zunehmende Unübersichtlichkeit des Lebens. Das gesamte 20. Jahrhundert pulsierte in mehreren Weilen des Aufbruchs, der immer wieder von Backlashs und Retro-Phasen konterkariert wurde, in denen es darum ging, die Explosion an Kreativität, Innovation und Freiheit, die entfesselte Komplexität bringt, wieder zurückzunehmen. Der Kern der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts ist auf massive Vereinfachung ausgerichtet und hat lediglich zu einer weiteren Explosion von Komplexität geführt. Es ist also nicht die Komplexität, die uns sabotiert, sondern der Versuch, sie zu reduzieren. Und wir versuchen sie dann zu reduzieren, wenn wir sie als Bedrohung wahrnehmen.

Noch vor 30 Jahren attestierte der Soziologe Ulrich Beck den um 1970 geborenen Generationen mit besorgtem Unterton den Aufbruch in das Zeitalter der „Risikogesellschaft“, in der der einzelne ohne den Halt bindender Traditionen sein Leben selbst erfinden und täglich neu entscheiden muss. Ist das unsere Realität? Der Mensch des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts: einsam und hilflos unendlicher Komplexität und unüberschaubaren Risiken ausgesetzt? Freiheit als Zumutung? Individualität und Selbstentfaltung als Illusion, die über einen wahren existenziellen Albtraum hinwegtäuschen?

Tatsächlich scheint es bis heute sehr vielen Menschen große Schwierigkeiten zu bereiten, mit einem Zugewinn von Komplexität zu Recht zu kommen. Die Fragen, die sich viele stellen, klingen erst einmal harmlos, doch in Wirklichkeit sind es tiefe philosophische Lebensfragen, die häufig nicht Lösungen, sondern Blockaden auslösen. Was will ich wirklich? Wofür soll ich mich entscheiden? Was, wenn es die falsche Entscheidung ist?

 

Dichotomes Denken und die Folgen

Solche Fragen stellten sich die Generationen vor uns nicht. Der angeborene soziale Stand und das eigene Geschlecht bestimmten die Möglichkeiten, die Rechte und Pflichten, die ein Mensch hatte. Es waren wenige einfache Regeln, die die Welt unserer Vorfahren bestimmten und begrenzten. Dem Weg der eigenen Träume zu folgen und individuelle Lebensvisionen zu erschaffen, wäre entweder verrückt, Sünde oder ein Fall für die Literatur gewesen.

Erziehung und Alltagsdenken sollten Stabilität erzeugen, eine komplexe Stabilität, die über einfache Koordinaten erzielt wurde. Ihr Grundprinzip ist die Dichotomie, die Zweipoligkeit: Oben oder unten, richtig oder falsch, gut oder böse, Mann oder Frau, Herr oder Knecht. So einfach war die Welt. Und um sie herum entwickelten sich unendlich viele Facetten und Regeln der Zugehörigkeit. Allein, wer wem in die Augen sehen durfte, wer zuerst sprechen, wer sich setzen durfte und wer stehen musste – ein komplexes Regelwerk, dessen Höhepunkt sich in verschiedenen Hofzeremoniellen zeigte, ordnete die Einfachheit der Dichotomie in sehr komplexer Weise. Doch all diese Facetten liefen an ihrem Endpunkt auf die Dichotomie zu. Mode, Stil, Umgangsformen, was man zu tun und zu lassen hatte. Es folgte dem allem innewohnenden sabotiert, sondern der Versuch, sie zu reduzieren. Und Prinzip der Dichotomie.

Doch was sollen wir heute tun und denken, wo es diese im Prinzip einfache hierarchische Welt nicht mehr gibt? Der Preis der Freiheit ist die Konfrontation mit der Komplexität. Das ist zentral. Es betrifft den gesamten Sinn unseres Denkens.

 

Auf der Suche nach einem inneren Kompass

Bewusstes Denken und Interpretieren dient in der Praxis dazu, dass wir uns unsere Welt und unser Leben erklären können. Dass wir Entscheidungen treffen und wissen, wann wir sicher sind und wann nicht. Schlicht, dass wir leben können. Fehlt uns dieser Deutungsrahmen, sind wir überfordert und blockiert. Es fehlt der innere Kompass, den unsere Vorfahren für die Welt, die sie vorfanden, noch hatten.

In mehreren Tausend Coachings konnte ich die Herausforderungen, die Komplexität und Kontingenz im Leben heute stellen, gut beobachten. Sie zeigt sich deutlich an dem, was als Inkongruenz bezeichnet wird . Ein Auseinanderfallen von Absicht, Wunsch und Selbstwirksamkeit. Viele wissen häufig, was sie im Business oder im Leben erreichen wollen, tun es aber nicht, oder treffen Entscheidungen, mit denen sie ihre eigentlichen Ziele sabotieren. Das geht Teams ebenso wie einzelnen Menschen. Manche beschreiben es wie ein „Leben mit angezogener Handbremse“. Andere leben ein inneres Doppelleben. Wie z. B. ein Mann, Anfang 40. Er ist Investmentbanker in London, obwohl er eigentlich Sport-Unternehmer in Oberbayern sein will. Parallel zu seinem Leben mit 18-Stunden Tag in London entwickelt er ausgefeilte Geschäftsideen. Alles existiert in seinem Kopf bis ins kleinste Detail. „Nur so kann ich das hier überleben“, sagt er und auf meine Frage, warum er als hervorragend ausgebildeter, finanziell abgesicherter Mensch nicht einfach seinen Traum erfülle, reagiert er symptomatisch: Es wäre „Harakiri“, seinen hervorragend bezahlten Job aufzugeben, es sei verrückt, er sei doch nicht plemplem. Die Freiheit ist ganz offensichtlich da. Aber er kann sie nicht nutzen. Etwas, das wir alle kennen.

Ist das verrückt? Keineswegs. Es ist der ganz normale Wahnsinn eines fundamentalen Epochenwandels, eines Epochenwandels, in dem unsere innersten, von unseren Eltern und deren Vorfahren übernommenen Denkstrategien nicht mehr zur Wirklichkeit passen und wir zurückrudern wollen zu Ufern, die wir nur um den Preis der Selbstblockade erreichen können. Dann können wir Freiheiten und Möglichkeiten nicht sehen, sondern torpedieren sie mit einschränkenden Denkmustern. In Wirklichkeit sabotieren wir die Komplexität. Nicht sie uns. Das alles fängt in unserem eigenen Denken an.

 

Der Dinosaurier im Kopf

Hinter fast allen Problemen, die Menschen in Bezug auf ihre Arbeit oder ihr Leben mitbrachten, stecken Vereinfachungsstrategien, die wie Selbstsabotage wirken. Egal, ob es um Konflikte in Management-Teams, Entscheidungsschwächen oder Innovationsdefizite geht. Bei all diesen Phänomenen gibt es klare, dysfunktionale Denkmuster. lch nenne diese Parallelwelt in unserem Denken MINDFUCK. Das ist ein Begriff aus der Kinowelt, der sich auf eine Figur bezieht, die Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden kann. Genau das passiert, wenn wir eine der sieben MINDFUCK-Strategien anwenden.

Sieben Hauptstrategien können wir jedem x-beliebigen mentalen oder realen Problem unterlegen. Es gibt den Katastrophen-MlNDFUCK, mit dem wir Angst- und Katastrophen-Szenarien konstruieren. Den Selbstverleugnungs-MINDFUCK, mit dem wir die Lebensinteressen anderer über unsere stellen. Im Bewertungs-MINDFUCK bewerten wir notorisch, setzen Perfektionsansprüche an uns und andere und erzeugen dadurch Lähmung und Frust. Im Modus des Regel-MINDFUCKS halten wir uns an ungeprüfte oder längst überholte Regeln, die unseren Spielraum einengen. Im Druckmacher-MINDFUCK setzen wir uns unter Druck um zu funktionieren und ohne Rücksicht auf unsere Ressourcen weiter zu machen. Im Misstrauens-MINDFUCK unterstellen wir grundsätzlich negative Absichten und zerstören damit unser Vertrauen in das Leben und jede Art von Kooperation. Im Übermotivations-MINDFUCK dagegen steigern wir uns in euphorische Motivation hinein. Es ist das Zuckerbrot, das die Peitsche der anderen MINDFUCKS ausgleicht und das System der MINDFUCKS innerlich funktionieren lässt. Es mag hart klingen, aber nicht anders funktionieren Diktaturen und Terror-Regime – mit Angst und Druck, Zuckerbrot und Peitsche. Woher kommt die Diktatur im Kopf aufgeklärter Menschen?

Es ist, wenn man die sieben MINDFUCKS auf den Kern bringt, das dichotome, das zweipolige Denken der autoritären Herr-Knecht-Welt, aus der wir alle stammen. Wer im 20. Jahrhundert geboren wurde, wurde von Menschen erzogen, die diese Welt noch ‚live‘ erlebt haben. Im MINDFUCK-Modus konstruieren wir einen überlieferten Ordnungsrahmen und verlieren so den Zugang zu unserer eigenen Zeitlichkeit. Wir entscheiden auf Basis einer vergangenen Welt. Meistens greifen die verschiedenen MINDFUCK-Strategien wie Zahnräder ineinander. Entwweder pushen wir uns oder wir reden uns herunter. Wir nehmen uns nicht die Freiheit, die wir eigentlich haben.

Dieses Denken, mit dem unsere Vorfahren Komplexität reduzierten, hat als inneren archimedischen Punkt den Gedanken von Sicherheit und Kontrolle. Das Gegenteil von Komplexität und Freiheit. Dieses Dinosauriergerüst eines dichotomen Denkkorsetts behindert uns immer noch täglich. Wir brauchen nur die Zeitungen aufzuschlagen oder unsere inneren Dialoge zu verfolgen und finden sie wieder: die tiefen Spuren der Vergangenheit mitten in unserer Gegenwart. MINDFUCK ist veraltetes Denken und wirkt so, als ob wir mit einem Programm, das für den ersten Atari entwickelt „wurde, auf unseren heutigen High-Tech Geräten arbeiten würden. Wir verschenken Potenzial und engen Komplexität unpassend ein. Aus Angst, sie könnte uns sabotieren. Warum diese Angst?

 

Auf dem Weg zu einem inneren Systemwechsel

Freiheit ist Komplexität und Komplexität birgt Potenzial. Beides war gefährlich für die Machstrukturen einer Welt, in der zu viele Menschen um zu wenige Ressourcen kämpften. Die Grundkoordinaten des Denkens hatten bis zum 21. Jahrhundert zum Ziel, Potenzial zu begrenzen und den einzelnen zum Funktionieren, statt zum Wachstum zu bringen. Und das würde auch so weiter gehen, würden sich nicht unsere Rahmenbedingungen so grundsätzlich verändern, wie sie es in diesen aufregenden Jahrzehnten tun. Wir erleben erstmals in der Geschichte der Menschheit eine in der Breite wohlhabende und alternde Gesellschaft. Immer weniger Menschen teilen sich in den westlichen Ländern reichlich vorhandenen Ressourcen.

Um die komplexer gewordene materielle und mentale Wirklichkeit zu bewältigen, werden immer weniger und immer ältere Menschen immer mehr leisten müssen. Eine schlechte Nachricht? Nicht, wenn wir es schaffen, das dichotome Denken zugunsten eines mehrdimensionalvernetzten Denkens aufzugeben. Wenn das Ziel unseres Denkens statt auf Einschränkung und Wettbewerb auf die Entfaltung individuellen Potenzials, persönliches Wachstum und Kooperation gelegt wird. Damit kann sich die Produktivität des einzelnen, von Teams und der ganzen Gesellschaft dramatisch erhöhen. Das aber erfordert den Mut, Sicherheit und Kontrolle als Fixpunkt des Denkens aufzugeben und unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf völlig neue Aspekte, z.B. die Lebensqualität des einzelnen zu richten. Ist das der Leitstern unseres Denkens, eröffnet sich ein neuer Blick auf die Komplexität an Freiheit, Möglichkeiten und Herausforderungen. Wir bilden Querbezüge, statt vertikal-autoritärer Strukturen. Einzelne und Teams, die mit einem solchen inneren Systemwechsel arbeiten, erleben mehr Komplexität, mehr Freiheit und gleichzeitig eine Explosion an Kreativität.

Ist das realistisch? Oder sind wir den alten Schattenspielen in unserem Kopf hilflos ausgesetzt? Zum Glück nicht. MINDFUCK lässt sich mit einfachen Strategien beenden. Und was kOlTullt dann? Die Chance, unsere wahren mentalen und emotionalen Kapazitäten zu erfassen: Unser Potenzial zu lernen, zu kreieren und zu kooperieren. Wir können von einem dichotomen zu einem mehrdimensional-vernetzten Denken kommen. Angstfrei erlebte Komplexität führt bei Menschen automatisch zu Stimulanz und Lernprozessen. MINDFUCK-freies Denken ist deshalb freies, schöpferisches Denken. Es bringt  lnnovation und erweitert den Möglichkeitenraum. Es befreit von innerer wie äußerer Stagnation und hilft im Leben wie im Business, neue, adäquate Lösungen zu finden.

Ideen und Methoden dazu gibt es bereits. Wir können uns der Komplexität intuitiv nähern und einen hohen Grad an Selbstachtsamkeit entwickeln. Tun wir das, kann es uns gelingen, unseren eigenen Willen, unsere Bedürfnisse und Träume zu erkennen. Wir können reifen und gleichzeitig ein Gespür, einen hellwachen Sinn für das richtige Biotop entwickeln, das es uns möglich macht, diese innere Wahrheit in eine äußere Wirklichkeit zu verwandeln. Das würde heißen, dass wir nicht mehr mit Vereinfachung gegen die Komplexität ankämpfen, sondern sie zulassen und wahrnehmen, soweit uns das möglich ist und das tun, was die Natur in uns so gut kann wie nichts anderes: lernen. Wir würden vom passiven Rezeptor und Plagiator zum aktiven Kreateur unseres Lebens. Denn Menschen sind dann am leistungsfähigsten, wenn sie entspannt, offen und neugierig sind.

Gelänge uns das immer öfter, würden wir auf dem Meer der Komplexität surfen, satt dagegen anzuschwimmen und ans Ufer der Orientierungslosigkeit zurückgeworfen zu werden. Es könnte uns gelingen, Vielfalt bewertungsfrei zu leben und die Potenziale unserer menschlichen Existenz in einer neuen Dimension zu realisieren. Willkommen im 21. Jahrhundert.

 

 

Foto: „Beutewege II“ | time. | photocase.de

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