Der Stratege: Soziologe, Ökonom, Enterpreneuer und Rebell

So gut wie alle von uns arbeiten in Agenturen. Und das schon länger. Unser Job als Stratege: Auf was kommt es (immer mehr) an, was wird sich ändern (müssen)? Ein paar (kontroverse) Anforderungsprofile.

Von Manuel Stolte, Head of Insight & Strategy, SinnerSchrader, Hamburg

 

Die Teilung in Digital und Analog verschwimmt zusehends. Ehemals digitale Kanäle werden fester Bestandteil unseres realen Lebens. Eine Entwicklung voller Potenziale. Im Kern geht es nicht me r um diese bei den parallel existierenden Welten, sondern immer um den Menschen, der sie nutzt.

 

Technologe und Soziologe

Um das Lieblingsthema gleich vorwegzunehmen: DigitaleTechnologien und Daten sind das Edelmetall für die Goldidee von morgen, um einmal in der klassischen Metapher zu bleiben. Dabei kommt es darauf an, im ersten Schritt ‚digital‘ nicht als Kanal zu verstehen, sondern als immer umfassender vorhandene Infrastruktur. Ähnlich wie die heute völlig normale und selbstverständliche Nutzung von Strom oder Wasser. Im zweiten Schritt kommt es auf das an, was uns Strategen auszeichnet: genau hinsehen, hinterfragen, verstehen, (neu) kombinieren können und das Wesentliche im Detail erkennen. Perspektive ist immer der Mensch und sein Handeln im jeweiligen situativen Kontext. Warum handeln wir, wie wir es tun? Was sind die Routinen? Was liegt uns, was weniger? Auf was freuen wir uns, auf was weniger? Auf was sind wir stolz, was erzählen wir weiter? Warum nutzen wir das iPad vorrangig zu Hause auf dem Sofa, leihen wir den Laptop schon mal aus, das Smartphone aber so gut wie nie? Welche Technologie bzw. welches digitale Gerät nutzen wir in welcher Situation für welche Aktion? All diese Fragen erfordern ein gewisses Grundverständnis an technologischen Zusammenhängen und Funktionsweisen. Viel wichtiger in der Ergänzung ist ein starkes persönliches Interesse an all diesen Dingen. Zum Beispiel verstehen zu wollen, warum IKEA mit Uppleva ein eigenes Smart-TV inklusive eigener E-Commerce-Plattform auf den Markt wirft, oder den Kollegen aus der Technik zu fragen, warum es beim Scrollen durch das digitale Lebensmittelregal auf Millisekunden in der Seitenperformance ankommt.

Und das gilt ebenso für unsere Kunden wie für uns.

 

Ökonom

Einige von uns haben Betriebswirtschaft studiert und waren froh, als der Schwerpunkt mehr Richtung Marketing als Richtung Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft ging. Werbung, Marketing, Kommunikation, ob online oder offline, Hauptsache, tolle Ideen für Marken haben zu dürfen. Das ist das, was uns alle antreibt. Unser größtes Problem ist jedoch, dass je besser die Idee, desto teurer ist auch meist die Umsetzung. Und auf Kundenseite sitzt eigentlich immer irgendwo einer, der seinen Schwerpunkt im BWL-Studium eher im Controlling gewählt hat.

Der Konsument wählt das (mobile) Internet immer mehr als wichtigsten Ort für seine Recherche und Interaktion mit Services und Unternehmen, über so gut wie alle Produktkategorien hinweg. Was an sich überhaupt kein Problem darstellt. Wenn da nicht die grausame Messbarkeit des Erfolgs, aber auch Misserfolgs unserer Ideen, Maßnahmen, Kampagnen und Shops wäre. Messbar war es doch früher auch, wird jetzt der eine oder andere denken. Doch heute muss sich alles, was wir tun, mit den digitalen Verhaltensdaten der unterschiedlichen Analytics-Tools messen lassen. Gerade vor dem Hintergrund, dass diese Daten das ‚echte‘ Verhalten in dem jeweiligen Kontext widerspiegeln und ihre Wahrheit nicht in künstlichen oder incentivierten Befragungssituationen gefunden wird. Für uns Strategen ist es also Fluch und Segen zugleich, auf Basis dieser Daten zu arbeiten. Heißt im Umkehrschluss, dass wir uns künftig mehr mit Kennzahlen wie Conversion Rate, Bounce Rate, Traffic usw. auskennen müssen. Denn nackte Zahlen sind das, was unsere Kunden als Entscheidungsgrundlage nutzen (müssen). Keine Frage, die gute, kreative Idee zählt nach wie vor. Allerdings hat die Idee einen Bruder: den rechenbaren Business-Case. Künftig werden mehr die Geschwisterpaare überzeugen und ‚gekauft‘, weniger die Einzelkinder.

 

Entrepreneur

Die zweifelsohne spannendste Herausforderung der kommenden Jahre. Die digitale Entwicklung mit all ihren neuen Geräten, Anwendungen, Prozessen und Gewohnheiten der Konsumenten führt dazu, dass Unternehmen ihre Produkte und Services neu denken müssen. Altbewährte Produktlogiken verlieren an Bedeutung, werden durch Allverfügbarkeit der digitalen Transparenz austauschbar und ihr häufig doppelter Boden so durchschaut. Unternehmen, die das verstanden haben, lösen ihre Werbekampagnen durch gleichberechtigten, wertschöpfenden Dialog ab. Auf einer Ebene, von der alle etwas haben. Unternehmen und wir Menschen. Ein Fuchs wäre, wer hierfür nicht auch ein Zauberwort parat hätte: Value Co-Creation. Die Kunst liegt dabei in der gemeinsamen Werterschaffung. An und für sich ganz einfach und im Grundgedanken so alt wie die Menschheit: Früher gingen wir zum Schreiner oder Schneider und entschieden mit diesem gemeinsam, wie das Produkt aussehen soll und was es können muss. Der Handwerker lernte über seine Kunden, konnte ihnen so besser helfen, und der Kunde bekam genau das, was er wollte. Die Leistung des einen war ohne die des anderen nicht viel wert. Erst zusammen entstand das perfekte Produkt bzw. der Service.

 

Systemveränderer und Rebell

Eine Art Rückbesinnung zu alten Werten, gemeinsames Erschaffen mit gegenseitigem Respekt. Und nur logische Konsequenz der letzten fetten Jahrzehnte an Überproduktion, Verschwendung und Mogelei. Nur eben, dass diesmal kein großer (werblicher) Budenzauber dahinter stehen darf, sondern überzeugende Inhalte, wertvolle Beziehungen, Hilfe im richtigen Augenblick und ernst zu nehmende Interaktion zwischen Menschen. Nein, keine Verschwörung gegen die gute alte Werbung. Aufmerksamkeit und Bekanntheit braucht jeder. Nur langfristige Bindung schafft Werbung eben nur schwer. Echter Nutzen schafft das dafür umso besser und nachhaltiger.

Wo früher noch gesellschaftliche Zwänge waren, finden sich heute durch die Gemeinschaft geformte Freiräume. Wir Menschen haben wieder erlernt nachzufragen, zu bestimmen und wenden uns immer mehr vom Konsumkapitalismus ab. Sei es, dass wir wissen wollen, aus welchem Meer und Fanggebiet genau die Fischstäbchen kommen (und nicht mehr wie Käpt’n Iglo den Goldschatz aus dem Wasser zieht), oder dass der Strom aus der Steckdose nicht mehr nur ‚grün‘ sein soll, sondern aus nachhaltiger, regionaler Energiegewinnung. Das alles sind klare Zeichen der Emanzipation der Konsumentenkultur, von uns Menschen also, was die Haltung zu Unternehmen und deren Produkten und Services anbelangt.

Wie auch diese Erkenntnis nicht neu ist, so scheint sie doch vielen noch nicht die Augen für das große Potenziell geöffnet zu haben, das sich durch diesen Perspektivwechsel ergibt. Auch hier gilt für Unternehmen das Gleiche wie zuvor: In der Gemeinschaft mit uns Menschen, in Wert erschaffender und nicht verbrauchender Art und Weise. Wann ist die Zielgruppe an welchem Touchpoint und Kontext und wie kann ihr dort so begegnet werden, dass es mit den Produkten und Services zu einer sinnstiftenden und anhaltenden Interaktion kommt? Allein dieser Anspruch wird es uns in Zukunft verbieten, in separaten Kanälen zu denken. Vielmehr wird es darauf ankommen, in Kreisläufen zu denken und werthaltige und ressourcenschonende Kombinationen und Verbindungen zu erschaffen.

Wie das Ganze nun schaffen? Ein erster Schritt: In dem ein oder anderen Moment einen Schritt zurück gehen und nach dem Warum fragen. Ist das nicht zu beantworten, noch einmal zurück auf Los. Nur diesmal zusammen mit den Konsumenten, ähm… Menschen.

 

 

Foto: „Krawatte“ | simonthon | photocase.de

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