Die Kraft des kultivierten Risikos

Von Gesine Märten, Account Director bei der Agentur Frische Fische

 

Ein Plädoyer für einen bewussteren Umgang mit Risiken in der Markensteuerung

 

Ein Mädchen-Shirt mit dem zweifelhaften Aufdruck „In Mathe bin ich Deko“ – Grund für einen Aufschrei? Eine Bank wählt für ihren Werbespot eine Fleischerei als Handlungsort: Die Vegan-Community läuft Sturm!

 

Jede Kommunikation beinhaltet immer das Risiko einer Ablehnung – bemerkte schon Niklas Luhmann. Das ist kein Gedanke, der bei Unternehmen sonderlich beliebt ist. Erst recht nicht in der Markenkommunikation. Das Thema ist daher meist in Abteilungen mit Namen Issues oder Risk Management aufgehängt. Deren Aufgabe ist es, Risiken zu identifizieren, zu beobachten, zu bewerten und reaktive Strategien für den Umgang mit kritischen Themen zu entwickeln. Ein Austausch findet in der Praxis häufig mit dem Vorstand, den Public Affairs-Abteilungen oder der Produkt- und Konzernsicherheit statt. Viel seltener hingegen gibt es Schnittstellen in Richtung Marketing.

 

Das ist in sofern verwunderlich, als das es heute weniger die operativen Risiken sind, die für Unmut bei Kunden und in der Öffentlichkeit sorgen, sondern Risiken, die ihren Ursprung in der Kommunikation des Unternehmens haben. Kritik ensteht häufig nicht mehr am Produkt selbst, sondern am Unternehmensgebahren, seinem Verhalten, den Werten, die es vertritt. Und so sind es immer häufiger weiche Faktoren, die die Kritiker auf den Plan rufen: Eine Elektronikmarktkette, die mit dem Spruch wirbt, Weihnachten werde unter dem Baum entschieden und dabei die christliche Tradition verletzt. Probiotische Joghurt-Drinks, die bessere Abwehrkräfte versprechen und doch keine Erkältung verhindern.

 

Doch was steckt hinter dieser Entwicklung? Kritiker gab es schließlich schon immer. Und sie haben ihre Kritik auch schon immer geäußert. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien finden Menschen auch außerhalb ihres persönlichen Netzwerkes zusammen und organisieren sich über gemeinsame Interessen und Themen. Damit haben sich die Möglichkeiten tausendfach potenziert, Standpunkte vereint durchzusetzen. Und diese Interessen sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Mit einer Marketingstrategie keine Reibung zu erzeugen, ist beinah unmöglich. Die entscheidende Frage ist also, wie viel Risiko passt zur Marke? Dafür gibt es drei grundsätzliche Ansätze:

 

Risk Avoider: Dies ist die Gruppe der Marken, die Risiken in jeglicher Hinsicht meiden. Das gelingt denjenigen, die kommunikativ sprichwörtlich unter dem Radar fliegen und auf einen öffentlichen Dialog weitestgehend verzichten. Wer fühlt sich hier wohl? Traditionelle Familienunternehmen, Hidden Champions im B2B-Umfeld und auch Consumer Brands, deren Marketing rein unidirektional ausgerichtet ist. Risk Avoider machen sich wenig angreifbar, werden aber auch nie zu den hellsten Sternen am Markenfirmament gehören.

 

Risk Balancer: Als Risk Balancer ist man sich der Risiken bewusst und packt sie aktiv an. Dabei wird man niemals provozieren, sondern immer ausgleichend wirken und versuchen, so viele Interessen wie möglich zu berücksichtigen. Dazu gehören typischerweise Marken, die eine breite Zielgruppe ansprechen, auf eine lange Tradition zurückblicken oder eine marktführende Stellung haben. Damit der Balanceakt gelingt, ist es wichtig, aktuelle gesellschaftliche Trends und den Zeitgeist zu kennen und die Markenkommunikation jederzeit kritisch zu reflektieren. Das Ergebnis? Bestenfalls ein friedvolles Miteinander. Im weniger gelungenen Fall: konturenloser Einheitsbrei.

 

Risk Taker: An welche Marketingaktion des letzten Jahres werden wir uns noch in zehn Jahren erinnern? Den Sprung vom Rande der Stratosphäre! Hätte das schiefgehen können? Aber richtig! Die Markenstrategie von Red Bull war schon immer auf Risiko ausgelegt, denn das Sponsoring von Extremsportarten gehört zum Kern der Marke. Als Risk Taker geht man erhebliche Risiken ein, doch wird damit belohnt, dass wir sie so schnell nicht vergessen. Der Ansatz ist ganz sicher nicht für alle Marken geeignet, kann jedoch sehr attraktiv für den kleinen Player sein, der den Marktführer angreift. Oder für lifestyle-orientierte Konsummarken mit einer Zielgruppe, die Konventionen verachtet und das Wagnis liebt.

 

Oft ist das, was polarisiert, auch das, was aktiviert. „In Mathe bin ich Deko“. Für die einen ein Aufreger, für die anderen ein Statement mit Kultfaktor. Entscheidend ist, auf welcher Seite sich die eigene Zielgruppe wiederfindet. Kritik kann man aushalten und Kritik muss nicht immer weh tun – das gilt erst recht, wenn man sie bewusst einkalkuliert hat. Doch dafür brauchen wir eine neue Risikokultur – und Mut.

 

Foto: „10cm breit“ | emanoo | photocase.de

comments powered by Disqus