Radically Human – Keine erfolgreiche Strategie ohne Mensch

Von Birgit Käsbeck, Executive Strategy Director bei mcgarrybowen

 

Heutzutage gibt es für alles eine Strategie: für das Marketing, für die Produkte, für die Kommunikation oder gleich für das ganze Unternehmen. Was dagegen fehlt: Eine Strategie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Der Mensch als wesentlicher Faktor wird höchstens als Teil der Zielgruppenanalyse integriert oder als „Insight-Lieferant“ genutzt. Im Mittelpunkt steht er aber nicht. Dabei gilt seit jeher: Wer etwas verkaufen will, darf den Käufer nicht vergessen. Und das ist – früher wie heute – der Mensch. Wenn der Mensch, also das, was im Kern des Denkens stehen sollte, plötzlich nur noch Teil eines Prozesses und nicht mehr das Thema der Abläufe ist, läuft etwas falsch.

Die zentralen Entwicklungen unserer Zeit sind für uns alle spürbar: Die Welt wird immer schneller, umfassender und komplexer. Mit dieser Dynamik und Volatilität umzugehen, ohne eine Antwort auf alle Fragen haben zu können, ist eine der größten Herausforderungen für Unternehmen und Marken. Dabei liegt die Lösung auf der Hand: Sich auf das Zentrum, den größten gemeinsamen Nenner und auch auf das Konstante in diesem komplexen Universum zu konzentrieren, um in unserem Hier und Jetzt bestehen zu können: den Menschen.

Aber wie? Marken, Unternehmen und alle, die für sie arbeiten, müssen ihr Denken und Handeln neu fokussieren. Und das nicht nur theoretisch. Denn nur wer auch praktisch Taten sprechen lässt, das heißt den Menschen in den Mittelpunkt stellt UND auch danach handelt, kann den entscheidenden Unterschied machen. Nicht im Sinne einer Gutmensch-Kommunikation, sondern „radikal“ im Ursprungssinn (lateinisch radix = Wurzel, Ursprung). Der Mensch muss also radikal, das heißt konsequent und zentral als Kern erfolgreicher Kommunikation verstanden und behandelt werden – auf allen Ebenen, eben Radically Human.

 

Reframing sorgt für neue Perspektiven

Diese neue menschenzentrierte Betrachtungsweise fordert vor allem eines: den Schritt heraus aus dem Problem-Setting. Denn nur durch einen konsequenten Perspektivenwechsel kann die eingefahrene Betrachtungsweise von Mensch und Marke neu gestaltet werden. Unternehmen tendieren dazu, sich nur mit ihrer Branche und sich selbst zu beschäftigen. „Echten“ Menschen sind diese Strukturen oder Nomenklaturen, in denen Unternehmen denken und handeln, in der Regel egal, und das aus einem einfachen Grund: Für sie – die Kunden – ergeben sich daraus keine Mehrwerte.

Erst ein Perspektivenwechsel gibt Marken und Unternehmen den Raum für neue Ideen und Möglichkeiten, erlaubt mehr Flexibilität, um kundenorientiert zu handeln, sorgt für echte Mehrwerte, und so langfristig auch für Loyalität. „Airbnb“ hat diesen Paradigmenwechsel bereits vollzogen. Statt sich auf ihr faktisches Kernbusiness zu konzentrieren und nur Infrastrukturanbieter zu sein, orientieren sie sich am elementaren und unveränderlichen Grundbedürfnis eines jeden Reisenden: „‚Our business isn‘t [renting] the house,‘ Chesky says. ‚Our business is the entire trip.‘ (…) that crystallized the simple idea that hospitality should be at the core of what this company provides.“ (1)

 

Der Mensch, das unbekannte Wesen?!

Die Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden ist heute oft vor allem eines: Missverständnis statt Menschenverständnis. Die meisten Unternehmen führen eine Beziehung zu ihren Produkten, nicht aber zu ihren Kunden. Wer „seine“ Zielgruppe „akquiriert“, sie „managt“ oder „verwaltet“, setzt auf Datensätze statt auf einen echten Austausch – den Kern einer jeden guten Beziehung. Aus dieser Betrachtungsweise resultieren analytisch-rationale Fehlerquellen mit fatalen Folgen: Die Wünsche der Kunden werden nicht richtig erkannt, missverstanden oder die falschen Schlüsse daraus gezogen.(2) Auch hier ist ein anderes Handeln gefragt: vom Verwalten der Daten hin zum sinnhaften Interpretieren, vom 100-Seiten-MaFo-Manifest ins echte Leben. Wer diesen Schritt wagt, wird belohnt, denn mit wirklichem Interesse und den richtigen Fragen kann man mehr erfahren als aus Datensätzen.(3)

 

Erst der Mensch, dann das Produkt

Eine weitere Praxisbeobachtung deckt die nächste Herausforderung auf: Unternehmen denken in Dimensionen, die produktzentriert sind. Ein nachvollziehbarer Umstand, denn wo sonst wird die Identifikation mit „seinem“ Produkt und „seiner“ Marke höher bewertet als in erfolgreichen Unternehmen? Was bei aller Liebe zum Produkt oder zur Dienstleistung vergessen wird: die Liebe zum Menschen und seiner Realität. „LEGO“ liefert als Marke aber ein Beispiel, wie hilfreich die richtige Priorisierung sein kann: Erst nachdem sich nicht mehr alles um ihr Produkt und die Frage, wie man mehr Spielzeug verkaufen kann, drehte, ging es mit dem angeschlagenen Unternehmen wieder bergauf. Warum? Das Unternehmen fing an, sich tiefgründig mit der Frage auseinanderzusetzen, warum Kinder überhaupt spielen. Nachdem es deren Motivationen („mastery, hierachy, challenges“)(4) verstanden und verinnerlicht hatte, war es in der Lage, sein Angebot erfolgreich an ihren Bedürfnissen auszurichten: „We now understand children’s play and know how to reconntect with kids.“ (5)

 

Perfect Match statt Touchpoint-Terror

Auch mediaseitig muss umgedacht werden. Denn der Touchpoint der Zukunft ist kein digitales Item, sondern wie eh und je der Mensch. Auch oder gerade deshalb kommen hier mit dem Paradigmenwechsel Radically Human qualitative Aspekte ins Spiel. Die Frage, was heute vom Menschen als Touchpoint bzw. Markenerfahrung empfunden wird, ist zentraler denn je. Denn wenn sich Kommunikation und Markenerfahrung nicht decken, hilft auch die beste Marketingstrategie nicht weiter. Bestes Beispiel: Ein Telekommunikationsunternehmen, das zwar in jeder Werbemaßnahme seine Netzleistung betont, auf Facebook aber für jeden Post nur Hohn und Kritik der Kunden erntet, die so gar nicht mit der Netzverfügbarkeit zufrieden sind.(6) Dass solche Reaktionen dramatische Folgen haben können, zeigte eine Umfrage, laut der 89 Prozent der Verbraucher nach einer schlechten Kundenerfahrung zu einem Konkurrenten wechselten.(7)

 

Ein Plädoyer für den Menschen – und fürs Machen
Die Interessen von Unternehmen und Menschen sind kein Widerspruch. Im Gegenteil – man will etwas voneinander. Gegenseitig. Dieses Grundprinzip der Wirtschaft setzt allerdings eine gewisse Synchronisierung der beteiligten Personen voraus. Oder um es menschlicher auszudrücken: ein Miteinander. Oder wie es „dm-drogerie“-Gründer Götz W. Werner noch einen Schritt radikaler ausdrückt: „Mir ist klarer geworden, dass man den Kunden konsequent im Fokus behalten muss. Er steht nicht im Mittelpunkt, er ist das Ziel! Ohne ihn findet alles nicht statt.“ (8)

Wie dieses Miteinander gestaltet werden kann, hängt in erster Linie von der Bereitschaft des Perspektivenwechsels im Sinne von Radically Human ab, der auf jeder Ebene eines Unternehmens aufgebracht werden muss. „Wo bleibt der Mensch?“ – Die Strategie, das Produkt und die Kommunikation auf genau diese Frage hin abzuklopfen, zu hinterfragen und anzupassen, das ist die Aufgabe von heute und morgen.

 

Quellen:
(1) http://www.fastcompany.com/3027107/punk-meet-rock-airbnb-brian-chesky-chip-conley
(2) Mehr dazu: https://www.youtube.com/watch?v=zNUCmISvDss
(3) Praxisbeispiel: http://www.wired.com/2014/05/the-next-big-thing-you-missed-airbnb-uses-human-brains-to-crunch-data-better-than-computers
(4) https://www.youtube.com/watch?v=zNUCmISvDss
(5) CEO Jørgen Vig Knudstorp, https://www.youtube.com/watch?v=zNUCmISvDss; mehr dazu auch von Clayton Christensen (Harvard-Professor) unter: http://www.youtube.com/watch?v=VmbSpTJXozk&feature=kp oder von Amazon-Gründer Jeff Bezos beispielsweise unter: http://blogs.salesforce.com/company/2013/06/jeff-bezos-lessons.html
(6) Weiteres Beispiel: http://www.dominik-schwarz.net/telekom-kuendigen
(7) The seven habits of highly effective digital enterprises, McKinsey, May 2014: http://www.mckinsey.com/insights/organization/the_seven_habits_of_highly_effective_digital_enterprises
(8) Götz W. Werner, Brand Eins 05/2014, Seite 54

 

 

Foto: „altlast“ | sïanaïs | photocase.de

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