Verstehste?

Sozial ist das neue Bio, und Inklusion als gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen ist dabei ein Kernziel. Dafür braucht man Barrierefreiheit, damit alle verstehen und mitmachen können. Hier könnte sich auch die Werbebranche einen neuen Markt erschließen, indem sie eine ihrer Kernkompetenzen in neuem Licht erstrahlen lässt: Schwieriges einfach und attraktiv darstellen.

Von Dr. Stefan Hermann Siemer, Ambulanz für neue Kommunikation

 

„Verstehste?“ fragt uns Krombacher-Testimonial Matthias Schweighöfer im Spot und guckt dabei auf seine unwiderstehliche Art in die Kamera. Davor und danach ist viel passiert: Frau holt Bier, Frau bringt dem Mann das Bier, Mann trinkt Bier, Frau verwandelt sich in Matthias Schweighöfer und der trinkt mit dem Mann viel Bier, Schweighöfer schläft ein.

So weit die Handlung. Wenn ich das alles verstanden habe: Habe ich den Spot dann schon „decodiert“? Nein. Zum Antriggern der Männer-Bierlust reicht die Geschichte zwar aus, aber um die Pointe zu kapieren, brauche ich Kontext. Da war doch was? Genau, dieser etwas ältere Spot mit Manuel Neuer für Coke Zero: Gleicher Plot, aber mit Happy End: Neuer verwandelt sich zurück in die Freundin.

Warum ich das so umständlich und humorfrei erkläre? Weil der Krombacher-Spot sehr anschaulich die Relevanz von Informationsbarrieren zeigt. Sie zu überwinden – oder den Kunden dabei zu helfen – ist eine Basis-Aufgabe jeder Kommunikation. Vier dieser Barrieren nennt Walburga Fröhlich, Geschäftsführerin des Grazer Sozial Unternehmens atempo, das sich für die Gleichstellung von Menschen einsetzt: erstens Erfahrung, zweitens Vorwissen, drittens Wahrnehmung und viertens Erfassung. Spielen wir das durch:

 

1. Erfahrung

Bei der ersten Informationsbarriere, „Erfahrung“, macht der Spot keine Probleme: Auf dem Sofa sitzen, sich Bier bringen lassen, Fußball gucken: Das kennt man(n), das mag man. Das nötige Quäntchen Stimulanz bringt dann der Erfahrungsbruch durch den Verwandlungszauber der Freundin in den Spot.

 

2. Vorwissen

Jetzt zur Pointe: Um über den Witz des Krombacher-Spots lachen zu können, muss der Zuschauer die zweite Informationsbarriere überwinden: „Vorwissen“. Nur wer den Coke-Spot mit Neuer kennt, kann den Krombacher-Spot als Zitat, als Vergleich verstehen und daraus einen Witz ableiten. Das zu können tut gut. So kann ich biertrinkende Coach-Potato sein und mich gleichzeitig schlau und wissend fühlen, vielleicht sogar überlegen. Ich werde unterhalten, bin in meinem Status Quo bestätigt und werde auch noch aufgewertet: Saubere Strategiearbeit.

So weit, so gut. Aber in der einfachen Frage „Verstehste?“ steckt noch viel mehr, wenn man die Frage wörtlich nimmt:

 

3. Wahrnehmung

Vor dem Verstehen kommt das Wahrnehmen. Diese dritte Informationsbarriere, „Wahrnehmung“, haben heute immer mehr Kommunikatoren auf dem Radar. Hier geht es häufig um technische Lösungen:  Ist die Website „barrierefrei“? Wie kommen Blinde oder Taube damit zurecht? Das betrifft nicht nur Texte, sondern zum Beispiel auch Gebäude oder den Verkehr.

 

4. Erfassung

Die vierte Informationsbarriere schließlich heißt „Erfassung“. Hier geht es um die einfache Frage: Wird die Information erfasst und verstanden? Das hat viel mit Sprachkompetenz zu tun. Wie viele Menschen in Deutschland können denn Texte in deutscher Sprache lesen und verstehen? Dazu liegen dazu seit 2011 mit der leo.-Studie belastbare Zahlen vor, die sehr nachdenklich stimmen:

  • 7,5 Millionen Erwachsene (14% der Erwachsenen) in Deutschland sind Analphabeten oder funktionale Analphabeten d.h.: Sie können keine zusammenhängenden Texte verstehen, auch wenn diese kurz sind.
  • Hinzu kommen ca. 13,3 Millionen Erwachsene (26%) mit starken Schreibschwierigkeiten (die typischer Weise auch häufig Lesen und Schreiben vermeiden).
  • Zusammen sind dies also fast 20 Mio. Erwachsene in Deutschland (40%) mit starken Lese- und Schreib-Defiziten.

Wenn so viele Menschen betroffen sind, kann man nicht mehr von einem Minderheiten-Problem sprechen. 80% dieser „Leseschwachen“ sind deutsche Muttersprachler, über 12% haben höhere Bildungsabschlüsse, die meisten sind berufstätig und haben oftmals beeindruckende Kompensationsstrategien entwickelt.

 

Werbetexte: Meist einfach, kurz und gefühlsbetont

Es gibt ein System der sprachlichen Kompetenzniveaus, das viele z.B. von Fremdsprach-Prüfungen kennen. Es reicht von A1 bis C2. Die oben beschriebenen 40% lassen sich den Niveaus A1 und A2 zuordnen, obwohl man nach der Schullaufbahn eigentlich mindestens auf Stufe B1 landen sollte. Aber nur etwa 60% der Erwachsenen lesen und schreiben auf den Sprachniveaus B1 oder höher. Im Umkehrschluss bedeutet das: Jede Kommunikation auf diesen höheren Niveaus kann von 20 Millionen erwachsenen Kunden nicht adäquat verstanden werden.

Das übliche Sprachniveau von Werbetexten, häufig Anlass für Grundsatzkritik, schneidet hier sehr gut ab: Werbung ist in der Regel einfach, kurz und gefühlsbetont. Aber es gibt auch die andere Seite – hier ein Beispiel-Satz aus einer Anzeige (Gesundheit) in der aktuellen „Bunte“. Hier ist Mediziner-Sprech das Mittel der Wahl, um kompetent und glaubwürdig zu wirken: „Grundsätzlich sollte erst die medikamentöse Therapie ausgeschöpft werden, bevor operative oder radiologische Maßnahmen zum Einsatz kommen.“ Verstehste?

 

„Leicht lesen“-Standard als Geschäftsmodell

Unternehmens- oder Behördenkommunikation, zum Beispiel Reportings oder Amtsschreiben, tun sich generell deutlich schwerer als Werbung. Der Kolumnist Ralf Beekveldt zum Beispiel schätzt, dass Firmen- und Behörden-Infos zu über 70% auf den hohen Sprachniveaus C1 und C2 geschrieben sind, quasi nur für Profis verständlich. Hier setzt zwar langsam ein Umdenken ein, aber bis zur Verständlichkeit auf A2-Level ist es noch ein weiter Weg.

Pionier-Unternehmen wie atempo haben in dem Markt, der hier gerade entsteht, ihr Geschäftsmodell gefunden. Der von atempo entwickelte „Leicht Lesen“ Standard ist mittlerweile nicht nur bei Menschen mit Leseschwächen beliebt. Zum Kundenkreis gehört neuerdings auch ein großes österreichisches Unternehmen (das ungenannt bleiben möchte), dessen Aufsichtsrat-Mitglieder der unverständlichen Controller-Sprache überdrüssig sind. Sie haben stattdessen leichter verständliche Informationen als Entscheidungsvorlagen eingefordert – und erhalten. Das Beispiel könnte Schule machen: Denn Führungskräfte haben nur wenig Zeit, sich eingehend mit Inhalten zu befassen – sie haben eigentlich die gleichen Bedürfnisse wie Menschen mit Leseproblemen: Kurze, klar formulierte und übersichtlich gegliederte Texte, die schnell erfasst werden können. Wollen wir das nicht alle?

 

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Erschienen in: new business 42 / 12.10.2015

Foto: lassedesignen / Shutterstock.com

 

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