Warum Werbung?

Werbung (1) ist doch nur oberflächlicher Hokuspokus, der Menschen Dinge verkauft, die sie nicht brauchen. Warum – ja warum – machen wir alle es trotzdem?

Von Dr. Gordon Euchler, Global Planning Director bei Ogilvy & Mather, Düsseldorf.

 

Die Marketingbranche hängt an der Nadel der Zukunft. Keiner kann schnell genug rausfinden, was das nächste Big Thing, der kommende Trend und die neueste Technologie ist. So rennen und stolpern wir immer schneller der Zukunft entgegen. Wer hat schon Zeit kurz innezuhalten oder gar einen Blick zurück zu wagen? Wer in der Werbung fragt schon: Auf welchem Fundament stehen wir? Oder noch besser: Ist es gut, dass wir Werbung machen?

 

Werbung muss nicht böse sein.

Es gibt so viele einfache, offensichtliche Antworten: Werbung kann Wachstum erschaffen – während sich so viele andere auf das Kostenkürzen beschränken. Werbung ist die vielleicht größte Universität zum Studieren menschlichen Verhaltens. Laut Jerry Della Femina ist Werbung der größte Spaß, bei dem man seine Hosen anlassen kann. All das ist zwar wundervoll, aber all das hat mich nicht dazu gebracht, aus der akademischen Blase Cambridge in die Welt der Werbung zu wechseln. All das lässt mich nicht morgens aufstehen.

 

Der Grund, warum ich Werbung mache, liegt tiefer. Oder höher. Heute können wir alle „on the shoulders of giants“ stehen. (2) Den Schultern von Männern (und hoffentlich bald auch ein paar Frauen) wie Bill Bernbach, David Ogilvy, Stephen King, John Webster, Stanley Pollitt und Colin Millward beziehungsweise ihren Arbeiten. Und in solch luftiger Höhe steht es sich sehr gut. Denn all diese Arbeiten zeichnet etwas Besonderes aus.

 

Aufklärung und Erleuchtung

Für die besten Arbeiten machen wir Planner uns immer wieder auf die Suche nach Insights. Jeremy Bullmore vergleicht sie mit Kühlschränken. Wenn man hereinschaut, geht ein Licht an, und wir sehen das Produkt und die Zielgruppe klarer. Eine überraschende Tür geht auf; wo vorher lauter Bäume waren, sehen wir den Wald, Cannes, D&AD, IPA, Ruhm und Ehre.

 

Aber die großartigsten Kampagnen aller Zeiten lassen nicht nur ein paar Werbern in der Agentur ein Licht aufgehen. Sie verschaffen dieses Gefühl den Menschen da draußen. Den Millionen von YouTubern, RTL2- und HBO-Glotzern dieser Welt. Diese Kampagnen ergreifen uns alle. Sie nehmen uns mit auf eine Reise, auf der wir etwas Neues, Überraschendes, Emotionales oder Humorvolles entdecken. Ein wenig Sinn finden. Über die Welt, in der wir leben. Über die Menschen, mit denen wir leben. Und ganz, ganz selten gehen sie so tief, dass wir etwas Neues über uns selbst entdecken. Und sie hören nicht da auf: sie lassen es uns fühlen und danach handeln. „Happiness is a cigar called Hamlet“ und Heinekens „Refreshes the parts other beers cannot reach“ erinnern mich immer wieder daran, wie dumm ich aussehe, wenn ich versuche, alles unter Kontrolle zu haben. AOLs „The Internet is a good thing/bad thing“ reißt mich aus meiner Furcht vor zu viel Technologie. Und macht mich vorsichtig, wenn ich dem nächsten Gadget manisch verfallen bin. Mit Jack Whites Coke-Spot gibt es tatsächlich Momente, bei denen ich Menschen auf der Straße anlächle (oder es zumindest versuche). Und mit Weetabix‘ „Fuel for big days“, dass Werbung stressig ist. Aber die Tage meiner Kinder vielleicht viel anspruchsvoller sind.

 

Nicht für die wenigen Auserwählten. Für alle.

Diese Aufklärung ist eine Aufgabe, die meist den hohen Künsten vorbehalten ist. Letztere sind jedoch zu oft nur den Eliten zugänglich. Die beste Werbung jedoch verschafft eine solche klitzekleine Erleuchtung nicht nur den Eliten in den Museen, sondern den Massen da draußen (und mir). Und die Suche nach dieser Erleuchtung – oder vielleicht nur das Erinnern, dass dies möglich sein könnte – das ist genau die Aufgabe, zu der das Planning beitragen kann.

 

Also: Warum mache ich Werbung? Weil die erfolgreichste Werbung aller Zeiten die Menschen ein wenig aufklärt. Das klingt jetzt alles ein wenig zu idealistisch? Perfekt, denn wann gab es das letzte Mal auch nur einen Funken Idealismus über Werbung.

 

 

(1) Und ihr könnt hier natürlich jeden anderen Namen für alle Formen von Marketing und Kommunikation einsetzen – Content, Marketing, Reklame, Marken und viele mehr.

(2) Newton half die Aussicht von dort oben, um die Schwerkraft zu entdecken.

 

new business

Erschienen in: new business 42 / 17.10.2016

Quelle Titelbild:birdys / photocase.de

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