Anticipatory Design – Eine Zukunft ohne Alternative

Stellen Sie sich vor, dass das Einzige, worum Sie sich am Morgen kümmern müssen, das Aufwachen ist. Buchstäblich. Der Kaffee ist frisch aufgebrüht, Ihre Kleidung liegt ausgewählt bereit und Ihr digitaler Home-Assistent erinnert sie an das Uber-Taxi, das innerhalb einer Stunde kommt, um Sie abzuholen. Das mag futuristisch klingen, ist aber technologisch längst realisiert.

Von Joël van Bodegraven und Michael Kurz, Digital Experience Designer, Amsterdam & Manchester

Dieses Phänomen, Nutzer-Bedürfnisse zu antizipieren, wird ‚Anticipatory Design‘ genannt, und es ist der nächste Entwicklungssprung im Bereich Experience Design. Die Prämisse hinter ‚Anticipatory Design‘ ist es, Entscheidungen für und im Interesse von Nutzern zu treffen, um diese von unnötigen Aufgaben und Stress zu befreien. Eine vielversprechende Entwicklung, die unsere Interaktionen und Erlebnisse mit Technologie permanent verändern wird.

Technologischer Fortschritt hat uns viele neue Möglichkeiten, aber gleichzeitig auch eine Zunahme an Komplexität und Unstetigkeit gebracht. So gab es in der Vergangenheit stets einen ‚Mittelsmann‘ zur Abwicklung unserer Aufgaben (zum Beispiel die Taxizentrale). Heutzutage ist vieles davon automatisiert. Und das ist auch nur der Anfang!

Wir stehen am Beginn einer Ära mit voll-autonomen, vorausschauenden Systemen, welche Nutzerbedürfnisse antizipieren. Googles CEO Sundar Pichai nennt das „Die nächste Evolution“. Die Vision seines Unternehmens ist es, „eine personalisierte Form von Google für jeden Nutzer zu entwickeln“. Ein Systemwechsel von mobile first zu A.I. first (Pichai, 2016).

Dieser romantische Blick auf eine Welt mit geringer kognitiver Belastung, effizienter künstlicher Intelligenz (A.I.) und automatisierten Abläufen und Erlebnissen hat Einfluss darauf, wie UX Designer in Zukunft Herausforderungen angehen. Und mehr noch: Es wir unser aller Denken und unsere Beziehung zu Produkten und Services verändern.

Definition Anticipatory Design

‚Anticipatory Design‘ ist Design, das einen Schritt voraus ist. ‚Anticipatory Design‘ bringt dazu Internet of Things (IoT), Machine Learning und UX Design zusammen:

Smarte Technologie lernt, im Rahmen von Internet of Things, durch Beobachtung (z.B. der Nest Thermostat von Google), während unsere Daten anhand von Algorithmen über Machine Learning interpretiert werden. UX Design ist essentiell, um daraus integrierte und antizipierte Erlebnisse zu gestalten. ‚Anticipatory Design‘ funktioniert aber nur wirklich dann, wenn alle drei effektiv verknüpft und aufeinander abgestimmt sind.

Die technologischen Voraussetzungen sind vorhanden

In Software wie beispielsweise Google Maps findet das Konzept des ‚Anticipatory Designs‘ heute bereits seine Anwendung. Der Markt für IoT wächst rasant aufgrund abnehmender Produktionskosten (Microchips) und zunehmender Ressourcen und Kapazitäten (z.B. Nvidia Machine Learning Chip). Das bedeutet, dass die Verbreitung von smarten Technologien in unserem Umfeld (zum Beispiel in Autos, Smartphones oder zu Hause) stetig zunimmt und so unser Nutzungsverhalten noch detaillierter und lückenloser als jemals zuvor analysiert werden kann.

Auswahl wird überbewertet

Es existiert ein Irrglaube über die nutzenstiftende Wirkung von Wahlmöglichkeiten aus Konsumentensicht. Barry Schwartz, hat in seinem Manifest ‚The Paradox of Choice: Why More is Less‘ (im Deutschen erschienen unter dem Titel ‚Anleitung zur Unzufriedenheit: Warum weniger glücklicher macht‘) erörtert, warum Auswahl Menschen unzufrieden macht. Mit dem Ergebnis: Je geringer, desto besser. Die Theorie von Schwartz wurde im Rahmen mehrerer Studien im Lebensmittelhandel nachgewiesen: Wie sich herausstellte, hatten Lebensmittelhändler mit kleinerem Sortiment deutlich bessere Absatzzahlen als solche mit größerem.

Generell hat Auswahl zwei negative Effekte:

  1. Paralyse: Anstelle von wahrgenommener Freiheit durch die Menge an Auswahlmöglichkeiten haben Menschen (mehr) Schwierigkeiten, eine Wahl zu treffen.
  2. Geringere Zufriedenheit (im Vergleich zu einer geringeren Auswahl):
  3. a) Eine geringere Zufriedenheit entsteht wegen der Vorstellung, dass eine andere Option zu noch mehr Zufriedenheit führen könnte.
  4. b) Je mehr Optionen es gibt, desto weniger befriedigend werden diese Möglichkeiten wahrgenommen.
  5. c) Eine geringere Zufriedenheit entsteht, weil wir niemals angenehm überrascht werden, da die Erwartungshaltung bereits zu hoch ist.

 

Das Bedürfnis nach geringerer Auswahl

Eine Zukunft frei von Problemen, Ärger und Stress. Ist es nicht das, wonach wir uns alle sehnen? Wo wir doch mehr denn je von Informationen und Stimuli überflutet werden. Das ist auch der Grund, warum die meisten von uns an Entscheidungsmüdigkeit leiden.

Je mehr Entscheidungen wir treffen, desto weniger rational werden diese getroffen.

Entscheidungsmüdigkeit ist ein sehr gut dokumentiertes Phänomen, das die Anzahl der Entscheidungen mit der Entscheidungsqualität in Korrelation setzt. Kurz gesagt, je mehr Entscheidungen wir treffen, desto irrationaler werden diese.

Ein Artikel in der New York Times hat diesen Zusammenhang wie folgt beschrieben: Der Autor erzählt die Geschichte von drei Gefängnisinsassen, die vor einer Strafvollzugskommission erscheinen die über deren Hafturlaub entscheidet. Alle drei Insassen haben bereits zwei Drittel ihrer Strafe abgesessen, werden aber dennoch unterschiedlich beurteilt. Die Strafvollzugskommission gewährt nur einem der Insassen den Hafturlaub. Der Grund für die unterschiedliche Beurteilung war die Uhrzeit, zu der die Entscheidung getroffen wurde. Der Insasse, der früh am Tag beurteilt wurde, hatte eine 30% höhere Wahrscheinlichkeit, den Hafturlaub zu erhalten, als diejenigen Insassen, die später am Tag vor der Strafvollzugskommission erschienen. Die Korrelation zwischen der Uhrzeit und der Entscheidung hatte mit der Anzahl vorangegangener Entscheidungen zu tun, die die Kommission bereits zu fällen hatte. Die Anzahl der Entscheidungen, die wir täglich treffen, ist über die Jahre aufgrund neuer Technologien auf circa. 35.000 angestiegen. Aaron Shapiro, Gründer und CEO der Agentur Huge, meint dazu, dass großartig gestaltete Erlebnisse uns von dem abgelenkt haben, was wirklich zählt: Komplexitätsreduktion und ein vereinfachtes Leben. Das ist auch der Grund, warum ‚Anticipatory Design‘ immer mehr an Bedeutung gewinnen wird und unsere Erlebnisse zunehmend automatisiert werden.

Ethische Herausforderung für ‚Anticipatory Design

Der Erfolg und die Qualität von ‚Anticipatory Design‘ und der daraus generierten Erlebnisse sind abhängig von (Nutzer-)Daten und dem Grad der Transparenz (Datenfreigabe), den Nutzer bereit sind zu gewähren. Die folgenden drei zentralen Herausforderungen gilt es zu berücksichtigen:

  1. Datenspeicherung: In der Bevölkerung herrscht ein allgemeines Misstrauen bezüglich der Vertraulichkeit von Datenspeicherung. Zweifel werden zudem genährt durch Fälle illegaler Datenweitergabe.
  2. Datenschutz: Nutzer sind häufig der Meinung, dass ‚sie nicht nichts zu verstecken haben’. Das Gegenteil ist der Fall; Unternehmen teilen diese Daten mehr und mehr, ohne im Vorfeld das Einverständnis von Nutzer einzuholen. Ferner gehen Unternehmen dazu über, ihre Datenschutzrichtlinien fortwährend zu erneuern oder zu bearbeiten (siehe Martijn, Tokmetzis, and Medendorp, 2016a). Studien zeigen, dass nur die wenigsten sich der Inhalte und Konsequenzen bewusst sind. Die zunehmende Automatisierung in allen Lebensbereichen bringt auch die Notwendigkeit zunehmender Transparenz, um Nutzerbedürfnisse treffend zu antizipieren. Es darf bezweifelt werden, ob unser existierendes Datenschutz-Ökosystem dieser Herausforderung und der zukünftig notwendigen Skalierbarkeit gerecht wird.
  3. Erlebnis-Blase: Eli Pariser beschreibt in seinem 2011 erschienenen Buch ‚The Filter Bubble: What the Internet is Hiding from You‘ (deutsche Ausgabe 2012: ‚Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden‘), wie ein personalisiertes Internet darauf Einfluss nimmt, was Menschen lesen und denken. Dieselbe Gefahr droht uns natürlich auch, wenn das technologische Ökosystem, in dem wir uns befinden, unser Verhalten und unsere Bedürfnisse antizipiert und dementsprechend in unserem Namen bzw. Interesse handelt: Eine Erlebnis-Blase, die uns in einer sich wiederholenden Schleife aus wiederkehrenden Ereignissen, Handlungen und Aktivitäten festhält. Dafür verantwortlich sind Algorithmen, binäre Datensätze, die nicht in der Lage sind, die Bedeutung von Handlungen zu decodieren. Es ist zweifelsfrei beängstigend, dass Algorithmen nicht dialogfähig sind. Sonst müsste man Algorithmen beibringen, was richtiges, falsches und unbeabsichtigtes Verhalten ist.

Wann und wie lässt sich ‚Anticipatory Design‘ für Produkte und Services einsetzen?

Spotify antizipiert, welche Songs du magst. Nest antizipiert Bedürfnisse, indem es die Temperatur entsprechend reguliert. Kunden wie auch Unternehmen profitieren enorm von diesen antizipierten Erlebnissen.

Wann profitieren Unternehmen von ‚Anticipatory Design‘?

HUGE Inc., einer der Pioniere auf diesem Gebiet, hat ein System entwickelt, das zu bestimmen hilft, ob, wann und wie Unternehmen von ‚Anticipatory Design‘ profitieren können. Kurz gesagt sind zwei Faktoren entscheidend: die Kosten im Falle, dass man falsch liegt, und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man richtig liegt.

 

Quelle: http://www.hugeinc.com/ideas/perspective/how-to-get-anticipatory-design-right

Wie profitieren Unternehmen von ‚Anticipatory Design‘?

Das Design von antizipatorischen Erlebnissen kommt mit vielen Herausforderungen. Ein auf machine-learning basierter antizipatorischer Designprozess ist noch weitgehend unerforschtes Territorium. Mehr als 700 Designer und Enthusiasten haben sich mittlerweile der „Anticipatory Design“ Bewegung angeschlossen, die sich zum Ziel gesetzt hat, Design-Lösungen in einer automatisierten Zukunft zu konzipieren und zu entwickeln. In den kommenden Monaten werden neben Design-Prinzipien auch eine Reihe eBooks veröffentlicht werden, die das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten und neue Denkanstöße geben.

‘Anticipatory Design‘ Bewegung

Joël van Bodegraven erforscht die Herausforderungen im Bereich ‚Anticipatory Design‘ und gründete die Plattform und Bewegung www.anticipatorydesign.com, um Insights aus der Praxis zu sammeln und ein Manifest zu entwickeln, das vor potenziellen Gefahren warnt. Im März diesen Jahres hatte er die Gelegenheit, seine Erkenntnisse auf einem Symposium der Stanford University mit Experten von Apple, Spotify und vielen anderen Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley zu teilen. Dort wurde auch eine Zukunftsvision für machine-learning basiertes ‚Anticipatory UX‘ oder ‚Predictive UX‘ entwickelt. Daraus entstehen aktuell Kooperationen mit dem Ziel, den Meinungsaustausch zu fördern und ‚Anticipatory Design‘ noch stärker ins Bewusstsein und in den Fokus zu rücken. Weitere Informationen zum Thema sind zu finden unter www.anticipatorydesign.com . Darüber hinaus, steht ein eBook kurz vor der Veröffentlichung, in dem Joël sämtliche Forschung sowie Experteninterviews, wie ‚Anticipatory Design‘ unsere Beziehung zu Technologie beeinflusst, in einer spannenden Geschichte zusammenfasst. Das eBook erscheint unter: http://www.designingforautomation.com

Weitere Informationen zum Thema sind zu finden unter: www.anticipatorydesign.com

 

 

Die Autoren:

Joël van Bodegraven ist ein in den Niederlanden geborener Designer und Hyper-Island-Alumni. Er ist Gründer der Anticipatory Design Foundation und arbeitet als Produktdesigner bei TravelBird in Amsterdam.

Michael Kurz ist noch bis Sommer für den Abschluss seines Masterstudiums in Digital Experience Design bei Hyper Island in Manchester. Er war zuvor als Gründer und Planning Director in Full-Service- und Digitalagenturen tätig.

 

 

In gekürzter Fassung erschienen in : new business 21/ 22.5.2017

Quelle Titelbild: //www.shutterstock.com/de/g/jamesteohart

 

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