Daten sammeln in China – kein Problem

China ist nicht nur ein Land mit 1,4 Milliarden potenziellen Konsumenten, sondern auch der Ort, an dem mehr Verbraucherdaten gesammelt werden als irgendwo sonst. Doch während die Datenschutzdebatte im Westen immer hitziger geführt wird, scheint das in China total unproblematisch zu sein.

Von Peter Petermann, Chief Strategy Officer von MediaCom China.

Neulich habe ich gelesen, es gäbe eine Korrelation zwischen Handynutzung und Fußgängergeschwindigkeit: Technologisierung führt angeblich zu einer höheren Gehgeschwindigkeit. Ich kann das nicht bestätigen: Ich rege mich immer wieder über fußlahme Chinesen auf, weil sie beim Gehen permanent aufs Handy starren. Und nicht nur dort – Chinesen daddeln immerzu: in der U-Bahn, im Meeting, beim Essen … sogar wenn sie auf dem Roller oder Fahrrad fahren. Und meistens tun sie das auf WeChat.

WeChat ist eine Kombi aus WhatsApp, Facebook, Apple Wallet, MyTaxi; ich kann Tickets bestellen oder Videos schauen. WeChat kann alles. Und WeChat weiß alles. Denn alles, was ich dort mache, wird von Tencent (der Mutter von WeChat) getrackt. Und selbstverständlich werden diese Daten für Targeting genutzt.

Alibaba, die zweitgrößte E-Commerce-Plattform der Welt, ist ebenfalls fleißig. Gerade wurde die sogenannte „Ali Uni ID“ gelauncht: eine personenindividuelle ID, mit der man jeden einzelnen Konsumenten über das gesamte Alibaba-Ecosystem verfolgen kann. Und das besteht, genau wie bei WeChat, aus weit mehr als nur einem Shopping-Portal.

Auch die Media-Agenturen schlafen nicht. MediaCom hat beispielsweise Hummingbird entwickelt, eine Tracking-Technologie, die wir – ohne nachfragen zu müssen – auf jedem Handy installieren können, das in die Nähe unserer Beacons kommt. Sobald der Tracker aktiviert ist, können wir mitverfolgen, wohin sich das Handy bewegt, welche Apps zu welcher Zeit genutzt werden und auf welchen Shopping-Portalen eingekauft wird.

 

Datenschutz? Nie gehört.

All das ist legal und kein Mensch käme auf die Idee, es zu hinterfragen. Es gibt keine Gesetze oder Vorschriften, die das Platzieren von Cookies auf einem Device regeln; und es bedarf auch keines Opt-Ins des Nutzers. Im Prinzip kann jeder, der über die entsprechende Technologie verfügt, jederzeit und überall nachvollziehen, was auf einem x-beliebigen Device passiert. Der gläserne Verbraucher ist in China längst Realität.

Nun stellt sich die Frage, warum man hier damit grundsätzlich kein Problem hat. Ich bin tatsächlich ja noch relativ neu in diesem Land und mit den kulturellen Eigenheiten längst noch nicht vertraut. Aber als guter Stratege beobachte ich natürlich, was um mich herum passiert – und mache mir meine Gedanken.

Ich habe in den ersten Wochen in Shanghai viel Zeit damit verbracht, eine Wohnung zu finden. Im Prinzip hat ein Expat dabei die Wahl: Man kann entweder in ein schickes Hochhaus ziehen, modern eingerichtet und mit allem erdenklichen Komfort. Oder man zieht in ein „Lane House“: 3- bis 4-stöckige Häuser in den verwinkelten Hinterhöfen Shanghais. Von der Straße gelangt man in die Lanes mit teilweise bis zu 50 einzelnen Häusern, dicht an dicht stehend und alle mit eigenem Eingang.

Teilweise sind Lane Houses zu „Einfamilienhäusern“ aufgemotzt worden, aber oft genug ist auch nur eine einzelne Wohnung renoviert worden. Als Expat wohnt man dann wirklich Tür an Tür mit relativ einfachen Chinesen, und deren Wohnungen verfügen üblicherweise über keinerlei Komfort. Was ich dabei interessant finde, ist, dass diese Menschen viele Tätigkeiten mehr oder weniger öffentlich verrichten. Ich habe beispielsweise sehr oft Herdplatten im Treppenhaus gesehen – man kocht offenbar nicht in der Wohnung, sondern öffentlich. Die Türen zu diesen Wohnungen stehen meist offen und man kann direkt in das Wohn-, manchmal sogar ins Schlafzimmer schauen. Permanent sieht man Wäsche, die draußen zum Trocknen oder Durchlüften hängt, und „dreckige Wäsche“ wird fast immer draußen gewaschen. Auch auf der Straße fällt auf, dass sich das chinesische Leben in der Regel öffentlich abspielt.

 

Ein eigentümliches Verhältnis zur Privatsphäre

Ich kann nur spekulieren, woher dieser zwanglose Umgang mit dem Thema „Öffentlichkeit/Privatsphäre“ kommt. Vielleicht ist Privatsphäre in einem Staat, in dem alles überwacht wird, ohnehin illusorisch. Oder es gibt eine historische Komponente: Dorfgemeinschaften und Clans lebten bis ins 20. Jahrhundert in sogenannten „Walled Cities“ (den Vorläufern der „Lanes“), wo Menschen mit gemeinsamen Wurzeln auf engstem Raum gemeinsam wohnten. In jedem Fall gibt es aber offenbar eine Verbindung zwischen dieser Abwesenheit von Privatsphäre und dem komplett sorglosen Umgang mit den eigenen Daten.

Die Frage ist, ob sich diese Beziehung zu den eigenen Daten ändern wird analog zum Generationenwandel, der sich ja in China gerade mit abenteuerlicher Geschwindigkeit vollzieht. Das jüngere, urbane China legt schon jetzt sehr viel Wert auf „Individualität“: Mode, Social Media, Musik und Film werden immer westlicher. Und die Street Styles der jungen Chinesen sind teilweise ausgefallener als in New York oder London.

Die Expertenmeinungen gehen auseinander: Die einen sehen eine immer stärkere Demokratisierung. Mehr Rechte für den Einzelnen und dafür mehr staatliche Kontrolle der großen Internetkonzerne. Vor Kurzem stand der Search-Konzern Baidu in der Kritik: Eine Krebspatientin war nach einer Internet-Recherche gestorben, weil sie sich offenbar auf „gekaufte“ und nicht als Werbung gekennzeichnete Search-Ergebnisse verlassen hatte – eine staatliche Ermittlung führte zu einer Regulierung von Suchmaschinen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die glauben, dass die Jüngeren eher noch freizügiger mit ihren Daten umgehen werden als bisher – vorausgesetzt, Marken bieten ihnen dafür eine Gegenleistung. Kostenloses Wi-Fi gegen Likes, wie bisher schon üblich, ist da nur die Spitze des Eisbergs.

 

Daten, nur eine Ware?

Ich persönlich glaube, der Wunsch der Chinesen, auch der jungen Chinesen, nach Zugehörigkeit ist einfach zu groß, als dass sich der Trend zu Individualität und damit zu mehr Privatsphäre wirklich durchsetzen wird. China hat einfach die Mao-Uniform gegen die Uniform von Nike und GAP eingetauscht. Daten, das erkennen mehr und mehr junge Chinesen, sind Kapital. Und auch wenn China eigentlich ein kommunistisches Land ist: Im Herzen ist hier jeder Einzelne in Wahrheit Turbokapitalist, für den die eigenen Daten letztlich auch nur eine Ware sind.

Wenn es stimmt, dass China dem Westen digital mindestens zwei Schritte voraus ist, dann wird sich vielleicht auch bei uns in dieser Hinsicht etwas ändern. Zwar kann man bei jüngeren Usern beobachten, dass sie inzwischen gelernt haben, Bilder von sich und andere Informationen mit mehr Vorsicht ins Netz zu stellen; der Erfolg von Snapchat ist sicherlich auch der Vergänglichkeit der Bilder geschuldet. Aber gleichzeitig sehen wir auch eine radikale Kommerzialisierung der eigenen Daten, beispielsweise bei Instagrammern und YouTubern. Da ist es sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis der Verbraucher auch bei uns auf den Trichter kommt, dass man auch andere Daten vermarkten kann.

 

 

new business

Erschienen in: new business   Nr. 40/02.10.2017

Quelle Titelbild: GaudiLab@shutterstuck.com

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