Bots überwachen Bots und am Ende bestellt der Papagei?

Warum man gegenüber den Versprechungen programmatisch generierter Marketing-Kommunikation skeptisch bleiben sollte.

Von Knut Riedel, freier Strategy Director, Hamburg.

 

„Programmatic“ ist die neue Größe im Marketing. Derzeit geht es zwar überwiegend noch um die algorithmisch gesteuerte Distribution digitaler Werbemittel, doch am Horizont steht die Vision programmatisch generierter Inhalte. Das zwanzig Jahre alte Ur-Versprechen des digitalen Marketings bekommt damit neues Leben: Werbung, deren psycho-algorithmisierter Überzeugungskraft ich mich partout nicht entziehen kann, weil sie ideal abgestimmt ist auf meine aktuelle Situation, meine Vergangenheit, meine Zukunftsträume und das Medium, das genau jetzt am besten dazu passt.

Wird „Werbung“ also demnächst von hyper-intelligenten Maschinen gemacht? Eher nicht. Denn wer das proklamiert, schwelgt in einer idealen Welt, die drei wichtige Merkmale der realen Welt übersieht.

 

1. Der eigene Konsumenten-Alltag weckt Zweifel

Bereits heute sind Targeting und Retargeting angeblich ausgereift. Nach wie vor bekomme ich allerdings kaum digitale Werbung, die sich anfühlt, als sei sie zielgerichtet für mich ausgewählt. Tagelang Banner zu Dingen, die ich entweder schon gekauft oder gegen die ich mich bewusst entschieden habe. Viermal hintereinander derselbe Epilierer-Spot beim In-Game-Advertising, obwohl ich definitiv nicht zur weiblichen Zielgruppe zähle. Und nach wie vor scheint Amazon nicht zu wissen, welches Buch ich demnächst lesen möchte – trotz 15 Jahren höchster Loyalität und lückenloser Bewertungen. Meine digitalen Customer Journeys fühlen sich nach wie vor an wie die Wahlplakat-Orgie der vergangenen Wahl: stückwerkhaft, stumpf und enervierend penetrant.

Nimmt man also den privaten Konsum-Alltag zum Maßstab, dann kommen durchaus Zweifel, ob die Fortschritte in der Intelligenz des digitalen Marketings auch in den nächsten 15 Jahren mehr als überschaubar sein werden.

 

2. Die Unternehmen kommen nicht nach

Betrachtet man die Marketing-Abteilungen auch großer Unternehmen, so kommt ebenfalls Skepsis auf: War-Rooms, in denen Datenströme in Echtzeit zusammengeführt werden und perfekt ausgebildete, internationale Teams geschmeidige Veränderungen am Live-Auftritt der Marke vornehmen, bestimmen kaum die Szene. Sondern eher normale Menschen, die in einem Umfeld von Alarmismus und Aktionismus verzweifelt versuchen, die Drohkulisse der „Digitalen Disruption“ (Amazon, Uber, Airbnb, Tesla – Sie wissen schon) im Sinne markiger Vorgaben wie „customer centric“, „digital first“ und „agiler Prozesse“ abzuwenden. Während gleichzeitig das CRM immer noch nicht richtig funktioniert, der Vertrieb die iPads doch nicht will, die Rechtsabteilung mal wieder mauert und sich der SEM-Experte in die Elternzeit verabschiedet hat. Beim Thema „Digitale Transformation“ stecken die meisten Unternehmen bereits in den Basics fest.

Die viel gelobten Daten verkomplizieren die eh schon angespannte Situation enorm, denn diese müssen ja gesammelt, qualifiziert, vernetzt und zeitnah genutzt werden. Das funktioniert nicht nebenbei und kann auch nur bedingt outgesourced werden. Entsprechend sind häufig nicht große Würfe gefragt, sondern überschaubare Projekte, die plakativ nach oben und außen beweisen, dass man „on track“ ist.

Gefragt sind daher auch nicht mehr Maschinen, Daten und Algorithmen, denn die sind eher Teil des Problems als der Lösung. Sondern Menschen, die als Dienstleister Komplexität reduzieren, mitdenken, mitfühlen, antizipieren und einfach mal schnelle Lösungen liefern.

 

3. Die neue allgemeine Verunsicherung

Legendär ist das Henry Ford zugeschriebene Zitat, die Hälfte seiner Werbegelder sei zum Fenster rausgeworfen, er wüsste nur nicht welche. Procter & Gamble ist da weiter: Im zweiten Quartal 2017 investierte man angeblich 140 Millionen US-Dollar weniger in digitale Werbeformate und konnte keine nennenswerten Effekte auf die Geschäftszahlen feststellen. Ein anderes Problem hat Gerald Hensel mit #KeinGeldFuerRechts aufgedeckt: Programmatisch distribuierte Banner finanzieren Websites mit fragwürdigen Weltanschauungen – ohne dass klar rekonstruierbar wäre, wie sie da eigentlich hinkommen. Microsofts selbstlernender Twitter-Bot wurde abgeschaltet, weil er sich zum Rassisten entwickelte. Und laut einer aktuellen „urban legend“ ist ein Papagei per Alexa zum Amazon-Dauerbesteller geworden. Einfaches Vertrauen in Technik birgt derzeit anscheinend kaum abschätzbare Risiken für Geldbeutel und Reputation.

Natürlich war Marketing auch früher schon unsicher. Gelesene Auflagen, Zuschauer-Reichweiten, repräsentative Stichproben, Media-Äquivalente – letztlich hatte man sich entschlossen, einfach denen zu vertrauen, die die Zahlen bereitstellten. Die Face Validity von Beleg-Exemplaren, selbst gesehenen Spots und Presse-Clippings war ausreichend, denn wirklich zu überprüfen war das alles auch schon früher nicht.

Heutzutage ist es allerdings schon rein theoretisch unmöglich, die Komplexität und Geschwindigkeit datengestützter Kommunikation mit den natürlichen Sinnen nachzuvollziehen. Und die Überprüfung der Maschinen anderen Maschinen zu überlassen, verlagert das Problem lediglich auf eine andere Ebene.

Aus der Anthropologie wissen wir, dass Rituale angstbindend wirken. Im digitalen Marketing sind solche Rituale aber noch nicht wirklich etabliert, und die Provisorien werden immer wieder neu infrage gestellt. Bis hier ausreichend Vertrauen aufgebaut ist, um sich wirklich auf das volle Risiko programmatischer Werbung einzulassen, wird es wohl auch noch eine ganze Weile dauern.

 

Fazit: Noch viel zu heiß gekocht

Bisher ging es gerade mal um programmatische Distribution und noch gar nicht um Inhalte. Wenn aber schon die Logistik überfordert und risikoreich ist, wer will sich dann schon auf programmatisch generierten Content einlassen?

Der Narrativ von der allmächtigen Maschinen-Intelligenz ist ein Klassiker der Science-Fiction (HAL 9000, SKYNET oder das MCP aus TRON). Allerdings scheitert die KI stets entweder an den unlogischen Vorgaben ihrer menschlichen Bediener oder daran, dass sich die menschliche Leidenschaft dann doch nicht den kalt ausgeklügelten Plänen der Maschine unterordnen will.

In der für die nächste Zeit absehbaren Realität spricht wenig dafür, dass die Menschen in der Produktion von werblichen Inhalten ersetzt werden. Die Apologeten des programmatischen Marketings sind einem Technik-Glauben verfallen, der konsequent die reale Erlebniswelt der Konsumenten, den Organisations-Alltag des Marketings und das (begründete) Misstrauen in die neue Technik übersieht.

Und was hat das alles mit uns Strategen zu tun? Unsere Kernkompetenz liegt darin, einen vollständigeren Blick auf menschliche Entscheidungsprozesse zu haben – egal, ob es sich um Konsumenten oder Kunden handelt. Daraus handlungsleitende Strategien zu entwerfen, die allen Beteiligten hinreichend vertrauenswürdig erscheinen, das ist unser Auftrag in Zeiten digital-transformationaler Unsicherheit.

 

 

new business

Erschienen in: new business   Nr. 42/16.10.2017

Quelle Titelbild: PIXA@shutterstuck.com

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