Blackbox Digitalisierung – Systemtheorie und Spinnen können Licht ins Dunkel bringen

Begriffe wie Umwälzung, Transformation oder Revolution prägen die Diskussion rund um den Prozess der Digitalisierung. Was durch aktuelle Skandale immer deutlicher wird: Den unbegrenzt erscheinenden positiven Möglichkeiten der Digitalisierung stehen genauso unbegrenzte negative Erscheinungen gegenüber. Diese Situation bietet die Gelegenheit, nach neuen Optionen in der digitalen Transformation zu suchen.

Von Ingo Waclawczyk, Leiter Strategie und Konzeption bei anyMOTION Graphics, Düsseldorf.

 

Die aktuellen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Debatten finden unter dem Begriff der „Digitalisierung“ statt. Wenn man sich die konkreten oder geplanten Maßnahmen ansieht, die mit der Digitalisierung in Deutschland verbunden sind, zeigt sich, dass es vorwiegend um technische Lösungen und Prozesse geht. Es ist unter anderem vom Ausbau des Breitbandnetzes, von Computern an Schulen, von kostenlosem WLAN und sogar von „Digitaler Weltmeisterschaft“ die Rede. Was so gut wie gar nicht in der breiten Öffentlichkeit oder der Kommunikationsbranche diskutiert wird: Dass es sich bei der Digitalisierung nicht nur um einen technischen, sondern auch um einen sozialen, gesellschaftlichen Prozess handelt. In Kreisen von Soziologen und Zukunftsforschern dagegen wird schon seit einiger Zeit an theoretischen Grundlagen für ein reflektiertes und differenziertes Verständnis der Digitalisierung gearbeitet. Eine der erstaunlichsten Theorien stammt von Niklas Luhmann, der sich schon vor mehr als 20 Jahren Gedanken über Gesellschaft und Kommunikation im digitalen Zeitalter gemacht hat.

Inspiration aus der Systemtheorie

Auf der Grundlage einer umfassenden Systemtheorie beschreibt Niklas Luhmann die Digitalisierung als einen Prozess, der die Kommunikation paradoxerweise nicht transparenter macht, sondern im Gegenteil undurchschaubar, extrem komplex und damit zu einer Blackbox. In seinem Werk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ schreibt Luhmann: „Wer etwas eingibt, weiß nicht (und wenn er es wüsste, brauchte er den Computer nicht), was auf der anderen Seite entnommen wird.“ Das liegt nach Luhmann unter anderem am sogenannten „Verweisüberschuss von Sinn“. Der Soziologe Dirk Baecker hat die Theorien von Luhmann weiterentwickelt und in Bezug auf unsere Gegenwart präzisiert. Er schreibt: „Probleme der Digitalisierung entstehen daraus, dass elektronische Medien der Gesellschaft an der Schnittstelle von Mensch und Maschine einen Überschusssinn bereitstellen, auf dessen Bearbeitung bisherige Formen der Gesellschaft strukturell und kulturell nicht vorbereitet sind.“ Und weiter: „Überschusssinn bedeutet jeweils, dass ein Medium der Kommunikation mehr Möglichkeiten der Kommunikation bereitstellt, als je aktuell wahrgenommen werden können.“

Digitalisierung begreifen, um sie zu nutzen

Die aus dieser Situation resultierende Komplexität von digitaler Kommunikation aller Art kann jeder von uns täglich erfahren oder beobachten. Als einen Lösungsvorschlag im Umgang mit dieser kommunikativen Komplexität formuliert Baecker: „Jede neue Medienepoche muss sich auf diesen Überschusssinn erst einstellen. Und ‚Einstellen‘ heißt nicht, dass der Überschusssinn verschwindet; sondern es heißt, dass Formen bereitstehen, eben eine Struktur und eine Kultur der Gesellschaft, in denen er aufgegriffen und reduziert werden kann, ohne ihn als solchen zum Verschwinden zu bringen. Im Gegenteil. Jede neue Struktur und Kultur einer neuen Medienepoche misst sich eben daran, dass sie den Überschusssinn aushält, den das Medium trägt, indem sie mit diesem Überschusssinn konstruktiv, das heißt ebenso routiniert wie innovativ, umgeht.“ Es geht also darum, mit der enormen Vielfalt an Kommunikation leben zu lernen und sie konstruktiv zu nutzen. Das gilt sowohl für die einzelnen privaten Menschen als auch für Unternehmen, die digitale Medien zur internen oder externen Kommunikation nutzen.

Notwendig: Kommunikation neu denken

Im Zusammenhang mit der digitalen Medienepoche ist aus der modernen Gesellschaft die Netzwerkgesellschaft entstanden. Sie ist geprägt von der „hybriden Kopplung heterogener Elemente“, hat keine erfassbaren Grenzen und ist jederzeit veränderbar. Die passende Kulturform, um mit dieser Vernetzung umzugehen, ist die Komplexität. Widersprüchliches, Überraschendes oder Flüchtiges erhalten mit der Komplexität einen „Sinn“, sie werden Normalität und notwendige Denkmuster, um die vielfältigen Kommunikationsangebote auszuhalten. Wenn man die Gedanken aus der Systemtheorie weiterverfolgt und sich mit den beschriebenen Merkmalen der Netzwerkgesellschaft beschäftigt, scheint es notwendig zu sein, Kommunikation ganz neu zu denken. Für die Kommunikation im digitalen Zeitalter müssen offensichtlich in einem experimentellen Prozess völlig neue Lösungen und Methoden entwickelt werden. Welche das sein könnten, ist noch völlig offen, erste Ansätze dazu sind aber schon sichtbar, so zum Beispiel in agiler, kooperativer Arbeitsmethodik oder im Einsatz von künstlichen Intelligenzen.

Strategische Planung 4.0

In dieser Gesamtsituation haben strategische Planer eine besondere Rolle. Denn sie arbeiten an den Schnittstellen zwischen Unternehmen, Kreation, Medien und Technologien – sie sind Moderatoren unterschiedlicher Interessen und darin geübt, bewusst eine andere Perspektive einzunehmen. Sie verbinden so unterschiedliche Fähigkeiten wie Empathie und Logik, Kommunikations- und Vorstellungskraft sowie Diplomatie. Strategische Planer besitzen also in der Regel eine gewisse Eigenkomplexität, die eine notwendige Voraussetzung für den Umgang mit komplexen Situationen ist. Sie bringen daher optimale Anlagen mit, um im Kontext der Digitalisierung an Lösungen für die Frage zu arbeiten, welche Formen, Strukturen oder Kulturen für gelingende Kommunikation benötigt werden.

Aber auch Strategen müssen sich weiterentwickeln. Ein mentales Update scheint für die eigene Handlungsfähigkeit notwendig zu sein. Eine interessante Perspektive hierfür ist der vom Zukunftsinstitut vorgeschlagene „Humanismus 4.0“. Der Humanist der Zukunft denkt nach dieser Auffassung eher pragmatisch ausgerichtet, erkennt und nutzt strukturelle Schnittstellen der Netzwerkgesellschaft, sieht Komplexität nicht als Bedrohung, sondern als Chance, ist sich des Gemeinsamen im Großen und des Trennenden im Kleinen bewusst.

Es geht aber auch darum, neue Methoden und Tools zu erfinden, um in der vernetzten Zukunft eine planerische Aufgabe erfüllen zu können. Basis für die Entwicklung sind viele Informationen und eine umfassende, tief greifende Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung. Der Beruf des strategischen Planers könnte sich in den eines Komplexitäts-Planers verwandeln. Inspiration für den Weg dorthin kann aus branchenfremden Bereichen wie der Systemtheorie, der Kybernetik oder auch der Kunst kommen. Der argentinische Künstler und Architekt Tomás Saraceno zum Beispiel experimentiert mit Spinnennetzen, die von unterschiedlichen Spinnen hergestellt werden. Das Erstaunliche: Die Spinnen nutzen existierende Netze und erweitern sie um eigene Netze, die aber ganz anders und ganz eigen sind. Das Ergebnis sind dreidimensionale Netzwerke, eine Kombination, die stabil, flexibel und vielfältig ist – gleichzeitig aber ist jedes Netz als einzelner Bestandteil erkennbar. Vielleicht ein ganz schönes Modell für die zukünftige digitale Kommunikation.

 

 

 

Literatur und Link:

Niklas Luhmann (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände, Frankfurt am Main.

Dirk Baecker (2016): Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt?, in: Rainer Gläß und Bernd Leukert (Hrsg.): Handel 4.0: Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation, Berlin.

Dirk Baecker (2016): Digitalisierung als Kontrollüberschuss von Sinn, in: Christian Schuldt (Hrsg.): Digitale Erleuchtung, Zukunftsinstitut GmbH, Frankfurt am Main.

Christian Schuldt (2017): Systemtheorie: Theorie für die vernetzte Gesellschaft, Hamburg.

Kirsten Brühl, Dr. Hannes Koppel, Frank Schomburg, Christian Schuldt (2017): Next Germany, Zukunftsinstitut GmbH, Frankfurt am Main.

Tomás Saraceno (tomassaraceno.com)

 

Erschienen in: new business Nr. 18/ 30.04.2018

Quelle Titelbild: hellengrig@shutterstuck.com

 

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