Digitalisierung für ein besseres Ich?!

Die Digitalisierung verändert nicht nur die Art und Weise, wie wir kommunizieren, einkaufen und arbeiten. Sie verändert vielmehr uns Menschen selbst, unser Denken, unser Fühlen und unsere Haltung zum Leben.

Von Anja Schüling, Leitung Strategie bei Freunde des Hauses in Hamburg, und Coach.

 

Der französische Philosoph Michel Serres spricht sogar von „einer neuen Spezies Mensch“, die die Digitalisierung hervorbringt. „Sie erkennen, verarbeiten, synthetisieren anders als wir. Sie haben nicht mehr den gleichen Kopf“, schreibt Serres.

Für Marken und Unternehmen ist es wichtig, diese fundamentalen Veränderungen zu verstehen. Nur so können sie auch zukünftig eine relevante Rolle im Leben der Menschen einnehmen und die Chancen, die die Digitalisierung mit sich bringt, richtig nutzen.

Dazu fünf To-dos für Marken:

 

1. Individualität und Gemeinschaft ermöglichen.

Es klingt paradox: Je individualistischer ein Mensch, umso mehr ist er auf die Unterstützung anderer angewiesen – schließlich braucht es Menschen und Gemeinschaften, die Individualität ermöglichen und als „Echo Chamber“ fungieren. Der Mensch erlebt durch sein digitales Sein, dass er höchst individuell sein kann und es gleichzeitig immer irgendwo jemanden gibt, der ähnlich denkt wie er selbst. Das gibt Bestätigung und lässt eine neue Form von Seelenverwandtschaft entstehen, wie seit Jahren bei World of Warcraft oder bei twitch.tv.

Über Anwendungen wie nebenan.de finden auch in einer anonymen Großstadt Individualisten viel einfacher und unverbindlicher zueinander, um auch im realen Leben nachbarschaftlichen Austausch zu pflegen.

Die App Houseparty – phasenweise auf den Top-Download-Charts der USA – bringt Freunde in Echtzeit zusammen und erfüllt so das tiefe Bedürfnis nach spontaner Zugehörigkeit und Akzeptanz.

Marken sollten daher beides ermöglichen: Einerseits die individuellen Bedürfnisse der Menschen bedienen und andererseits eine Anbindung an eine Gemeinschaft Gleichgesinnter schaffen. Wie die amerikanische Rucksackmarke Goruck: Hier können Sport-Enthusiasten an selektiven Special-Forces-Trainingscamps teilnehmen oder diese Trainingscamps per 48-Stunden-Livestream verfolgen.

 

2. Echtes menschliches Interesse zeigen.

Inzwischen ist es für jeden von uns selbstverständlich, sich mit der ganzen Welt zu verbinden – ganz unverbindlich und sicher vom heimischen Sofa aus.

Bereits ein 14-Jähriger hört über Spotify die Top-Charts aus Korea und folgt weltweiten Trends wie der Fortnite Dance Challenge. Das sorgt von Kindesbeinen an für einen breiten Erfahrungs- und Erlebnishorizont und somit für mehr Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen und neuen Strömungen.

Unternehmen müssen sich von ihrer immer noch stark selbstzentrierten Marken- und Produktdenke lösen: Durch echte Neugier auf das, was die Menschen wirklich bewegt. Manche Blogs offenbaren mehr über die Sorgen und Nöte der Menschen als eine breit angelegte Marktforschung. So lässt sich echte Nähe zu Menschen aufbauen. Es eröffnet die Möglichkeit, Teil des Dialogs zu werden und wirklich relevante Angebote zu machen.

 

3. Den Machern mehr Macht geben.

Früher lag die Macht bei einer geringen Anzahl von Personen, die dank ihrer Bildung mehr wussten und so über einschlägiges Herrschaftswissen verfügten. Heute liegt die Macht bei denjenigen, die in der Lage sind, das einfach zugängliche Wissen in systematische, flexible Zusammenhänge zu bringen und entsprechende Handlungen daraus abzuleiten. Schwachstellen im System werden heute schneller bemerkt und korrigiert. Dabei kann die bessere Lösung von überall herkommen – auch der Praktikant eines Großkonzerns hat eine reelle Chance, seine Innovationsidee im Intranet voranzutreiben.

Marken können dabei helfen, Menschen zu Machern zu machen. Sowohl durch eine fundierte Vermittlung von Fachwissen, persönliches Coaching als auch durch die Möglichkeit, sich auszutauschen und von anderen zu lernen.

Ein interessantes Beispiel ist Quora: Quoras Mission ist es, die Information in der Welt zu verbessern und mehr Wissen ins Internet zu bringen. Nach dem Frage-Antwort-Prinzip beantworten Experten (wie der kanadische Premierminister Trudeau) individuelle Fragen zu den unterschiedlichsten Themen. Inzwischen hat Quora über 200 Millionen Nutzer pro Monat. Auch für Unternehmen ist es interessant, sich hier als Experte auf einem bestimmten Gebiet zu positionieren.

 

4. Partizipation auf ganzer Linie ermöglichen.

Durch die sozialen Netzwerke wird zunehmend mitbestimmt: Es wird geliked, ignoriert, gedisst. Die Menschen geben ihre Stimme permanent ab. Politik wird zunehmend über die Informations- und Kommunikationskanäle gemacht, was leider auch seine Schattenseiten hat. Statt alle vier Jahre zur Wahl zu gehen, vernetzt man sich schnell und unkompliziert, in Foren werden Wahrnehmungen zu den politischen Entwicklungen ausgetauscht, die den Menschen wirklich wichtig sind. Und ruft Debatten wie #MeToo und das aktuellere Pendant #MeTwo ins Leben. Diese Hashtags finden in kürzester Zeit ihre weltweite Verbreitung und lösen tief greifende Veränderungen aus, die früher sehr viel länger gedauert hätten. Auch Marken müssen den Menschen Teilhabe ermöglichen – sowohl die Teilhabe an der Marke selbst als auch an Themen, die eng mit der Marke verknüpft sind. Wie beim Projekt „All that we share“ des dänischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TV2, bei dem die Teilnehmer und Zuschauer auf höchst emotionale Art erleben, dass uns Menschen sehr viel mehr eint als trennt.

 

5. Richtungsweisende „Role Models“ etablieren.

Was gerade den Millennials beim Start ins Arbeitsleben häufig vorgeworfen wird: Sie seien zu anspruchsvoll und zu bedürfnis- und freizeitorientiert. Dabei zeigen uns die neuen Generationen das auf, woran unser bisheriges System krankt: Arbeit als primären Sinnstifter und Karriere als Königsweg der Selbstdefinition zu betrachten.

Mit zunehmender Digitalisierung sind solche Kompetenzen gefragt, bei denen es um Teamfähigkeit, fachliche Flexibilität und eigenverantwortliche Gestaltung geht. Das erfordert ein lebenslanges Lernen und die Fähigkeit, innezuhalten und sich selbst und die jeweilige Situation infrage zu stellen.

Um all diesen Anforderungen gewachsen zu sein, braucht es Selbstverantwortung: Die Menschen müssen mehr denn je in der Lage sein, auf ihre Bedürfnisse zu achten, persönliche Grenzen zu erkennen und dafür einzustehen.

Gerade in der Werbung sollten Marken statt der üblichen Werbeklischees zeitgemäße Vorbilder etablieren. Vorbilder, die Ideen für neue Lebens- und Wertekonzepte geben und Mut machen, für seinen eigenen Lebensentwurf einzustehen. Wie der Film „Unlimited Courage“ von Nike: Hier zeigt Chris Mosier, wie er als erster Transgender-Athlet im US-amerikanischen Olympiateam traditionelle Rollenbilder überwindet.

Abschließend sei gesagt: Digitalisierung bedeutet permanente Veränderung. Menschen, Marken und Unternehmen müssen sich immer wieder hinterfragen. Alle Beteiligten sollten den Mut haben, Neues auszuprobieren, um die Chancen der Digitalisierung optimal für sich zu nutzen.

 

Erschienen in: new business Nr. 40/01.10.2018

Quelle Titelbild: metamorworks@shutterstuck.com

 

 

 

 

 

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