TikTok – die Zeiten ändern sich

Seit Anfang des Jahres steht auch in Deutschland die Video-App TikTok zum Download bereit. Doch was aussieht wie ein netter, kurzlebiger Zeitvertreib, hat das Potenzial, eine ganz neue Form von Markenplattform zu werden – jedenfalls wenn man sich anschaut, wie TikTok in China eingesetzt wird.

Von Dr. Peter Petermann, Chief Strategy Officer, MediaCom China, Shanghai.

 

 „There’s just not that many videos I want to watch.“ – Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 2005 und ist von Steve Chen, Chief Technology Officer und Co-Founder von YouTube. Er konnte sich damals einfach nicht vorstellen, dass das von ihm mitgegründete Unternehmen langfristig erfolgreich sein könnte. Die Zeiten ändern sich, und heute gibt es niemanden mehr, der ernsthaft bezweifelt, dass Online-Videos ein fester Bestandteil unserer Entertainment-Kultur geworden sind.

Egal ob coole GoPro-Filme, die zigtausendste Fail-Compilation, Schminktipps, Häppchen aus TV-Serien oder Musikvideos … die Liste der Inhalte ist endlos und für (fast) alles gibt es auch jemanden, der es sich anschaut. YouTube ist nur eine von vielen Plattformen, auf denen Online-Videos verbreitet und konsumiert werden, und Steve Chens Sorge, dass dem Internet irgendwann der Content ausgehen könnte, ist wohl unbegründet.

Tatsächlich scheint es so, dass der richtig große Boom bei Online-Videos gerade erst losgeht – und wie so häufig, wenn’s ums Digitale geht, hilft ein Blick nach China, um zu verstehen, was es mit TikTok (und den Nachahmern, die unweigerlich folgen werden) auf sich hat und inwiefern sie das Zeug haben, die Kategorie nachhaltig zu verändern. Hier findet man auch die Gründe, warum diese Plattformen für Marken ebenfalls durchaus interessant sein können.

2017 war in China DAS Jahr für „Short Video“ schlechthin. „Short Videos“, also Filme, die nicht länger als 15 Sekunden sind, gibt es in China schon etwas länger – aber im Jahr 2017 ist diese Art von Online-Video quasi über Nacht explosionsartig gewachsen. Innerhalb eines Jahres hat sich die Anzahl der aktiven Nutzer auf monatlich über 410 Millionen mehr als verdoppelt und ist allein im ersten Quartal 2018 noch mal um 50 Prozent auf nun über 600 Millionen Nutzer gestiegen. Auch die Nutzungsdauer hat sich vervierfacht und ist jetzt ungefähr halb so lang wie die von „normalen“ Online-Videos.

 

TikTok – das Instagram für Video

Einer der Haupttreiber dieses Wachstums ist Chinas zweitgrößte Plattform für „Short Videos“, Douyin (TikTok). Von Januar bis März hat TikTok mehr als 70 Millionen neue Nutzer hinzugewonnen und hat jetzt beachtliche 124 Millionen aktive Nutzer – Tendenz weiter steigend, nicht zuletzt auch im Rest der Welt.

TikTok ist eine Art Instagram für Kurzvideos: Man kann seine Videos aufnehmen, bearbeiten, mit einem Soundtrack versehen und dann auf die Plattform hochladen und mit dem Rest der Menschheit teilen. Was die Sache recht lustig macht, ist die Tatsache, dass man dabei eine ganze Reihe von ziemlich coolen Filtern inklusive AR-Technik verwenden kann – das macht aus einem langweiligen Filmchen im Handumdrehen ein regelrechtes Art-Video.

Marken nutzen diese Plattform auf zweierlei Art: als Reichweiten-Medium für kurze Online-Werbung und als Engagement-Instrument. Marken, die ihre eigenen Werbefilme auf TikTok schalten, sind gut beraten, diese Videos genauso cool, kreativ und aufmerksamkeitsstark zu gestalten wie die restlichen Inhalte auf dieser Plattform. Wer hier nicht im gleichen Duktus mitspielt, wird gnadenlos und tindermäßig weggewischt. Wenn die Filme aber tatsächlich angesehen werden, dann ist der Return on Investment vergleichsweise hoch: Offenbar reicht eine so kurze Sehdauer durchaus, um die Konsumenten positiv zu beeinflussen.

Aus meiner Sicht ist es für Marken allerdings noch spannender, TikTok als Interaktions-Medium zu nutzen. Auf TikTok finden regelmäßig sogenannte „Challenges“ statt: Das sind kreative, mit Sound untermalte Aufgabenstellungen, die man innerhalb der 15 Sekunden darstellen muss, ähnlich wie vor ein paar Jahren die „Ice Bucket Challenge“. Üblicherweise fängt eine „Challenge“ zuerst bei ein paar reichweitenstarken Influencern an, aber danach verselbständigt sie sich und wird oft zum viralen Hit. Hashtags erlauben es, die entsprechenden Videos auf TikTok zu finden.

Marken haben dieses Phänomen bereits entdeckt und nutzen es nun, um damit User Generated Content zu erzeugen. Mit großem Erfolg, wie das Beispiel von Michael Kors zeigt. Unter dem Hashtag #citycatwalk hat die Marke Nutzer dazu aufgefordert, ein Catwalk-Video von sich zu drehen, idealerweise mit Produkten der Marke. Das Promotion-Video für die „Challenge“ wurde mehr als 5 Millionen Mal gestreamt, mehr als 30.000 Nutzer haben Videos von sich kreiert und die gesamte Aktion hat ungefähr 50 Millionen Impressions generiert.

GUESS Jeans in den USA zeigt aktuell, dass TikTok nicht nur in China eine reizvolle Plattform für Marken ist. Mit #inmydenim hat die Fashion-Marke Anfang September eine „Challenge“ gestartet, in der es unter anderem darum geht, sich in seinen Jeans zu filmen. Darüber hinaus zeigen Fashion-Influencer in einer Art Makeover, wie man coole GUESS-Teile richtig kombiniert.

 

Welchen Impact hat der Musical.ly-Nachfolger?

Die Frage ist nun, ob sich der aktuelle Trend auf Dauer durchsetzen wird. Ist also TikTok (und seine Nachahmer) mehr als nur ein kurzlebiges Phänomen? Und wenn ja, können Marken diese Plattform nachhaltig als Kanal für ihre Werbung nutzen?

Die erste Frage lässt sich meines Erachtens relativ einfach und mit Nachdruck positiv beantworten. Kurze Videos, insbesondere wenn sie so knallbunt und peppig daherkommen wie auf TikTok, entsprechen vollkommen dem geänderten Nutzerverhalten aktueller Zielgruppen. Nicht nur Teenager lieben „snackable content“: Man öffnet die App, scrollt ein wenig, findet ein Video mit einem niedlichen Hündchen, dann das nächste mit einer tanzenden Schönheit, dann noch ein Hündchen … und schwupps ist eine halbe Stunde vorbei.

Und auch auf Produzenten-Seite ist TikTok mehr als beispielsweise Dubsmash (eine Video-App, die nur kurzes Trend-Potenzial hatte): Die Tatsache, dass man mit TikTok wirklich einfach recht guten Content erzeugen kann und dass man – ähnlich wie bei Instagram – Teil einer Community ist, macht einen großen Teil des Suchtpotenzials aus, das die App ohne Zweifel hat. Sie bedient darüber hinaus auch den immer stärker werdenden Selbstdarstellungstrieb und erlaubt dem Nutzer, sich mit neuester Technik sozusagen zu „enhancen“. Selfie 3.0.

Ich denke tatsächlich, dass der Shift, den wir in China gerade beobachten – weg vom „klassischen“ Online-Video hin zu „Short Video“ –, auch in Deutschland passieren wird. Wenn ich mein eigenes Nutzungsverhalten zugrunde lege, habe ich immer weniger die Geduld für aufwendigeren Content, wenn ich „surfe“. Selbst bei Facebook-Videos gehe ich oft zum nächsten Video, wenn die dreisekündige Werbung anfängt. Das ist auch der Grund, warum ich denke, dass TikTok eben auch für Marken längerfristig interessant sein wird: Hier stimmt nicht nur die Reichweite, sondern auch das Engagement. Der Algorithmus sorgt dafür, dass ich den relevantesten Content zu sehen bekomme, sei er User Generated oder eben Branded. Und die Technologie macht es supereinfach, eigenen Content zu erstellen.

Marken nutzen heute selbstverständlich soziale Content-Plattformen wie Instagram, Twitter oder Snapchat. TikTok wird sich einreihen in diese Liste, weil diese Funktionalität bisher von keiner anderen App abgedeckt wird. Natürlich kann man sich aus professioneller Sicht die berechtigte Frage stellen, wie hochwertig der Content auf TikTok am Ende tatsächlich ist. Aber wer hier die Nase rümpft, der bedenke: Millionen Fliegen können bekanntlich nicht irren.

 

 

Erschienen in: new business Nr. 42/15.10.2018

Quelle Titelbild:  Leonel Calara@shutterstuck.com

 

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