Gaming-Kultur und Marken

Mit strategischem Know-how ist der E-Sport- und Gaming-Markt ein Paradies für Marketers.

Von Sven Grammes, Senior Director Strategy & Ideation bei Lagardère PLUS.

 

Jetzt macht alles Sinn. Irgendwann in den Neunzigern nahm ich an meinem ersten E-Sport-Turnier teil – ohne es zu ahnen. Wir waren drei Jungs und ein Mädchen, die die grauen Winternachmittage vor dem Röhrenfernseher verbracht haben, um Street Fighter II zu zocken. Die pixeligen Farben hoben unseren Serotoninspiegel zumindest kurzfristig. Irgendwann entschieden wir, dass wir einen neuen Reiz brauchten, und sammelten Geld, um darum zu spielen. Jeder warf ein paar D-Mark in den Topf und wir luden auch Freunde und Verwandte ein, ein paar Münzen auf uns zu setzen. Exorbitante 7 D-Mark bekamen wir zusammen; ich verlor haushoch, hatte aber eine Menge Spaß.

Im Sommer 2018 hat Valve für die „The International Dota 2 Championships“ fast 25 Millionen US-Dollar eingesammelt – nicht von Sponsoren, sondern von Dota-2-Gamern aus der ganzen Welt. Gekoppelt an digitale „Goodies“ wie neue In-Game-Modi oder neue Musik haben die Dota-2-Fans so entschieden, dass das Gewinner-Team mit 11 Millionen US-Dollar nach Hause gehen durfte.

Die 25 Millionen sind nur eine weitere beeindruckende Zahl, die den E-Sport-Markt quantitativ beschreibt.

Allein monetär zeigt der E-Sport-Markt seine globale Relevanz. Quelle: https://adage.com/article/news/e-sports/308447/

 

Sowohl das prognostizierte wie bisherige reale Wachstum sind gewaltig und machen E-Sport und Gaming zu einem wichtigen Kommunikationsfeld für Marken. Es gibt deshalb auch genügend Artikel über die Relevanz von E-Sport und Gaming für Marken. Die Gaming- und E-Sport-Kultur hat aber Qualitäten, die gelernte Kommunikationsstrategien herausfordern.

Da sind zuallererst die Fans, die Community der Spiele, die nicht in klassische demografische Silos gepresst werden können. Klar, sie sind jung: aber sie sind auch inhärent global und damit auch kulturell sehr unterschiedlich. Während Grenzen und Nationalstaaten in der medialen Wahrnehmung wieder wichtiger werden, leben Gamer und E-Sportler wahrlich grenzenlos – die kulturellen Unterschiede sind sekundär. Sie spielen und kommunizieren mit Gleichgesinnten an digitalisierten Orten auf der ganzen Welt – gleichzeitig und über Zeitzonen hinweg. Die Welt ist ihr Zuhause, nicht das Reihenhaus mit Vorgarten. Gamer zeigen uns, wie wir in einer globalisierten Zukunft arbeiten, kollaborieren und kommunizieren werden.

 

„Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; sie machen dort alles anders.“
(Aus „The Go-Between“ von Leslie Poles Hartley)

 

In der öffentlichen Diskussion bleibt oft unerwähnt, dass sie nicht nur exzellent ausgebildet sind, sondern die körperlichen sowie geistigen Fähigkeiten der Profis außergewöhnlich sind. Wir sprechen im E-Sport und Gaming also mit hochqualifizierten Menschen, die vom Mainstream unterschätzt werden! Marken, die das verstehen, haben die große Chance, die Herzen dieser kaufkräftigen, ausgebildeten und globalen Zielgruppe zu gewinnen. Indem sie einen aktiven Beitrag leisten und E-Sport/Gaming ernst nehmen. Hier hilft es nicht, einfach das nächste Logo zu zeigen und dafür einen Batzen Geld zu überweisen. Denn so offen die E-Sport- und Gaming-Community gegenüber Marken ist, so direkt und reichweitenstark kann die Kritik werden, wenn Unternehmen sich ausschließlich aus Eigeninteresse engagieren. Die E-Sportler und Gamer haben sich noch nicht damit abgefunden, dass Marken nur MaFo-gerechten Einheitsbrei produzieren – wir Strategen sollten die Chance nutzen, wirklich geilen Kram im Gaming zu entwickeln!

Außerdem sind E-Sport und Gaming kommunikativ auf einem Level, dass Marketing und Sponsoring endlich mal von Beginn an kanalübergreifend gedacht werden können – nein: müssen. Quasi täglich finden Games eine loyale Zuschauerschaft auf Twitch, YouTube Gaming, PandaTV und noch vielen mehr. Die jährlichen Event-Highlights sorgen online dann für eine noch größere globale Reichweite, die ihresgleichen suchen:

 

Die zwei wichtigsten (westlichen) Streaming-Dienste sorgten für eine riesige globale Reichweite der wichtigsten vier E-Sport-Events. Quelle: https://newzoo.com/insights/articles/tournaments-for-the-wests-four-biggest-esports-games-generated-190-1-million-hours-of-viewership/)

 

Und auch offline sind die Events hochspannend für (mutige) Marken: Erlebnisse vor Ort und Integrationen von Sponsoren stecken noch in den Kinderschuhen. Hier liegt eine Menge Potenzial brach, das über die Community vor Ort und ihre digitale Vernetzung eine enorme Skalierung toller Marken-Storys ermöglichen kann. Und dabei gibt es von dem – mit Abstand – populärsten Spiel aktuell noch kein kompetitives Event-Highlight: Fortnite. Das kommt dann 2019 – watch out!

Schließlich ist der E-Sport-Markt noch immer in Wild-West-Stimmung – in Bezug auf Markenintegration. Es gibt (glücklicherweise) keine Sponsoring-Pyramiden. Es gibt aber auch nicht den offiziellen Verband oder das Turnier, das mit Olympia oder der Fußball-Bundesliga vergleichbar ist. Es gibt zwar Teams, aber die spielen unterschiedliche Spiele – und die sagen den meisten Marketers schlicht und ergreifend nix:

 

Die Kategorien der wichtigsten Stakeholder im professionellen E-Sport sind hier nur angedeutet. Quelle: https://nexus.vert.gg/understanding-sports-money-in-esports-438d77cf8b91

 

Bis vor Kurzem war noch nicht einmal klar definiert, wie E-Sport geschrieben wird:

 

Das heißt: Gelerntes Sponsoring-Wissen ist obsolet. Es gibt keine gelernte Struktur aus Verbänden, Vereinen, Turnieren, Vermarktungsplätzen und einer etablierten (quantitativen) Reichweitenmessung. Die kommunikativen Pfade sind noch nicht ausgetreten und auf Unternehmensseite sind es oft die Juniorinnen und Junioren und Praktikantinnen und Praktikanten, die das Thema E-Sport anstoßen und dann auch betreuen. Es ist also jede Menge Raum für Neues im E-Sport/Gaming, ohne dass Pfründe aus der Vergangenheit bedient werden müssten. Niemand kann euch sagen, wie „man Erfolg hat, weil es schon immer so gemacht wurde“. Wie geil ist das bitte? Wir Strategen sollten uns das Thema schnappen: Lasst uns auf die „gamescom“ gehen, E-Sport-Turniere besuchen, mit unseren Nichten und Neffen über ihre Lieblingsspiele und die Community sprechen. Gemeinsam mit ein paar Junior-Kreativen entwickelt ihr eigene Konzepte und pitcht sie intern oder direkt bei den Kunden. Das ist auf jeden Fall spannender als den nächsten Trend-Report für das kommende Jahr zu lesen und zusammenzufassen.

Diese neue Marketing-Legierung aus globalisierter Zielgruppe, online-/offline-verschmelzenden Plattformen und Wild-West-Markt macht E-Sport und Gaming zum Lackmus-Test für ein zukunftssicheres Marketing. Mit Plannern und Strategen wird das ein Kinderspiel: let’s play!

 

 

 

 

Erschienen in: new business Nr. 1-3/14.01.2019

Quelle Titelbild: Roman Kosolapov@shutterstuck.com

 

 

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