Die Kraft von genderneutralen Marken

Warum es der Gesellschaft guttun kann, wenn Marken das Gender ihrer Zielgruppen egal ist.

Von Marvin Kasten, Senior Strategist bei MUTABOR, Hamburg

 

Wenn wir Marken definieren, gestalten oder führen wollen, ist es wichtiger denn je, die Entwicklungen in unserer Gesellschaft immer im Blick zu haben. Denn Marken sind nicht nur Teil der Gesellschaft, sondern werden von den eigenen Zielgruppen zunehmend aufgefordert, Stellung zu beziehen und zum Sprachrohr von Debatten und Diskursen zu werden.

Was mich gerade besonders in der Arbeit als strategischer Berater für Marken und Unternehmen beschäftigt, ist die Genderneutralität. Ein Thema, das neben der so wichtigen wie lauten Diskussion um die Gleichstellung der Geschlechter oft untergeht.

 

Ein neues Gender-Verständnis

Die Formel Geschlecht = Gender ist schon lange ungültig. Es gibt nicht mehr nur männlich oder weiblich, 0 oder 1, sondern einen großen, nicht-binären Raum, in dem Menschen ihren Platz suchen und finden. Facebook schlägt momentan mehr als 70 Antworten auf die Gender-Identitätsfrage vor, Tendenz steigend. Denn Untersuchungen belegen, dass die Antworten auf Gender-Fragen von jungen, heranwachsenden Zielgruppen andere sind als die ihrer Eltern.

Eine Studie von J. Walter Thompson (USA, 2016) zeigt, dass 52 Prozent der befragten „Generation Z“ sich selbst nicht als „komplett heterosexuell“ identifizieren. 78 Prozent stimmen zu, dass Gender eine Person nicht mehr so sehr definiert, wie es früher der Fall war. Fawcett Society (UK, 2016) fand in einer Studie heraus, dass nur 44 Prozent der 18- bis 24-Jährigen denken, dass Gender binär ist, dagegen stehen 65 Prozent der über 65-Jährigen. Eine GLAAD-Studie (USA, 2017) wiederum zeigt, dass 12 Prozent der Millennials sich als „trans“ oder „gender-non-conforming“ identifizieren. Wenn Marken das Sprachrohr von diesen Zielgruppen werden wollen, müssen sie neue Vokabeln lernen.

 

Apropos Vokabeln

Ein Beispiel aus Schweden zeigt, wie eine Sprache die gesamte Gesellschaft beeinflussen kann, wenn sie neue Vokabeln lernt. Die Vokabel heißt „hen“, ein genderneutrales Pronomen, das 2015 als Ergänzung zu „hon“ (sie) und „han“ (er) in das schwedische Pendant zum Duden aufgenommen wurde.

Interessant ist die Entstehungsgeschichte von „hen“. Angestoßen durch das 2012 veröffentlichte Kinderbuch „Kivi und der Monsterhund“ von Jesper Lundqvist ist es das Ergebnis einer drei Jahre anhaltenden öffentlichen Debatte. Denn dort erfand der Autor kurzerhand das neue Pronomen, weil er das Gender des Hauptcharakters überaus unwichtig für die Erzählung hielt.

Nach einer großen Welle von Kritikern, die sich davon überzeugt zeigten, dass Menschen kein nicht-binäres Gender haben könnten, setzte sich „hen“ aber vor allem in den Medien und in der jungen urbanen Bevölkerung durch. Heute, sieben Jahre später, zeigen erste Untersuchungen, dass sich das Pronomen langsam, aber sicher im Sprachgebrauch etabliert.

So entsteht in der schwedischen Sprache eine neue Perspektive. Erzählungen können sich von dem allgegenwärtigen Gender-Bezug lösen. Im Ergebnis fühlen sich mehr Menschen miteinbezogen, weil sich niemand ausgegrenzt fühlt.

 

Können Marken einen ähnlichen Beitrag leisten?

Die Suche nach Beispielen im Markenkontext führt uns schnell in die Fashion-Industrie, denn bei Gender geht es um Selbstwahrnehmung und wie diese nach außen transportiert wird. Und Fashion übersetzt Gender in die vielleicht offensichtlichste Sprache. Bisher beruht diese Sprache auf soziokulturellen Codes, die über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gelernt wurden und unter anderem besagen, dass ein Mann mit Kleid wohl homosexuell sein müsse. Ein Umstand, den aufstrebende Fashion-Marken ändern wollen.

Da wäre einmal die Marke ECKHAUS LATTA aus New York, die Kleidung für ein „befreites Publikum“ macht. Ihre Kleidungsstücke sollen Menschen nicht definieren, sondern etwas zu ihrer Identität hinzufügen. Dazu passt, dass sie bei ihren experimentellen Fashion Shows auch nicht auf Models zurückgreifen, sondern auf Nodels (Non-Models).

Die Marke TELFAR propagiert: „It’s not for you – it’s for everyone“. Gründer und Designer Telfar Clemens möchte dazu beitragen, dass die Frage „Ist das eigentlich für einen Mann oder eine Frau gemacht?“ nicht mehr gestellt wird.

Die Swimwear-Marke CHROMAT hostet regelmäßig Anprobe-Tests mit nicht-binären Fans, um Feedback auf ihre Kleidungsstücke zu bekommen. Dabei lernt das Label immer wieder, dass es unmöglich ist, das ultimative Kleidungsstück für alle herzustellen. Die Kunst sei, so viele Optionen wie möglich zu gestalten.

Alles Marken, die man vermutlich bei „The Phluid Project“ in New York bekommen würde, einem der ersten Läden, in dem die Kleidung nicht nach Gender vorsortiert ist. Und alles Marken, die sogar die „New York Fashion Week“ dazu inspirieren, sich auf den Weg in eine genderneutrale Zukunft zu machen. Einen Anfang findet dieser Weg in der neuen Kategorie „unisex/non-binary“, die 2018 das erste Mal im NYFW-Kalender zu finden war.

Schaut man in Richtung Mainstream, sieht man, wie auch NIKE beginnt, die ersten genderneutralen Kollektionen herauszubringen. Auch Schuhen wird vermehrt kein konkretes Gender zugeordnet und sind in allen Größen verfügbar.

 

Von Fashion zu Beauty

Auch in Deutschland gibt es interessante Entwicklungen, zum Beispiel in dem häufig sehr offensiv gegenderten Beauty-Bereich. Dort zeigen junge progressive Marken wie AESOP eindrucksvoll, was passiert, wenn Gender gar nicht mehr so wichtig ist. Denn hier stehen Produkte und Inhaltsstoffe im Vordergrund, Design und Kommunikation spiegeln das klar wider.

Auf der anderen Seite stehen Initiativen wie die Bündelung der Männerpflege-Produkte von DM unter der Marke „SEINZ.“. Ein Schritt, der auf den ersten Blick sicher sinnvoll ist und Männern im Drogerieprodukte-Dschungel die nötige Orientierung gibt. Aber wenn DM mich fragt „Kennst du schon SEINZ.?“, würde ich wohl eine Gegen- beziehungsweise Genderfrage stellen. Wieso muss ich mich erst in eine von zwei Kategorien einteilen, bevor ich mir eine Gesichtscreme aussuchen kann? Vor allem im Hinblick auf das Motto „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ eine interessante Diskussion, die, wie die Studien zeigen, unterschiedliche Standpunkte bereithält.

 

Marken können hier ein wichtiges Sprachrohr sein

Denn Marken sind die Sprache, mit der wir uns ausdrücken, egal ob wir 1 oder 0 oder irgendwas dazwischen sind. Wenn Gender in Zukunft nicht mehr so wichtig sein wird, können Marken helfen, die in der Gesellschaft tief verwurzelten Gender-Kategorien weiter aufzuweichen. Sie sind wichtige Vokabeln für eine universelle Sprache. Eine Sprache, die niemanden ausschließt und mit der Menschen sich so ausdrücken können, wie es ihrer Selbstwahrnehmung entspricht.

Als Menschen, die Marken definieren, gestalten und führen, sind wir in der Verantwortung, uns in unserer Arbeit mehr und mehr von den Gender-Kategorien zu lösen. Auch wenn es nur menschlich ist, dass wir oder besser gesagt unsere Gehirne zum Schubladendenken neigen, um unser Gegenüber besser zuordnen zu können, brauchen wir hier eine besondere Sensibilität.

 

Quellen:

https://www.jwtintelligence.com/2016/03/gen-z-goes-beyond-gender-binaries-in-new-innovation-group-data/

https://www.fawcettsociety.org.uk/Handlers/Download.ashx?IDMF=a9a69875-749a-4482-9a8b-5bffaafe3ee7

https://www.glaad.org/files/aa/2017_GLAAD_Accelerating_Acceptance.pdf

 

Erschienen in: new business Nr.37 09.09.19

Quelle Titelbild: IanDyball@shutterstock

 

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