Kennst du eine(n), kennst du alle?

Von Dr. Malte Lenze, Rapp Germany, Hamburg

 

Die meisten werden das Gefühl kennen. Die Anspannung bei einem Pitch wächst: Man hat Energie, Zeit, Hirnschmalz und noch viel mehr in ein multikanaliges Superideenkonzept investiert und ein wirklich gutes Gefühl. Dann erfährt man, der Auftraggeber will mit einem Anzeigentest den Pitch entscheiden lassen….

 

Es ist heute ganz normal. Kampagnen sind in der Regel multikanalig. Agenturen und Unternehmen verstehen es immer besser, dem Kanal entsprechend das Richtige zu kommunizieren. Nicht mehr nach dem überholten Paradigma der integrierten Kommunikation zu handeln: möglichst alles gleich in allen Medien für ein schönes homogenes Gesamtbild. Wir haben sie alle noch vor Augen, die Schlacht um den umfangreichsten Kampagnenchart: Möglichst viele, möglichst gleiche Bildchen des Key Visuals über möglichst vielen lcons stellvertretend für möglichst viele Kanäle. Ich persönlich habe da immer die multiplizierte Vanessa Hessler vor Augen: Alice. Über alle Kanäle die gleiche Alice. Dreihundertsechzig Grad. So hatte integrierte Kommunikation zu sein.

 

Kommunikation nach der 360-Grad-Harmonie

Heute ist es anders. Meist geht es darum, ein Thema dem Medium und seiner Nutzung entsprechend aufzubereiten. Mehr und mehr orientieren wir uns sogar an der aktuellen Situation des einzelnen Menschen. Wo ist er im Moment und was macht er dort? Stichwort SoLoMo. Können wir als Marke vielleicht genau jetzt etwas sagen oder tun? Schnell verlässt man heute bei solchen oder ähnlichen Fragestellungen die Welt der Werbung und denkt eher über Produkt- oder ServiceLösungen nach. Schlaue Menschen haben so vor einigen Jahren mal „baked in“ genannt. Also sozusagen die Kommunikation ins Produkt oder in den Service eingebacken.

Um solche Dinge zermartern sich Agenturen zunehmend auch in Pitches die Köpfe. Das Produkt, das am Ende präsentiert wird, kann hochkomplex sein und weit über das hinausgehen, was vor einiger Zeit unter integrierter Kommunikation verstanden wurde. Also platt gesagt, eine schöne TV-Idee ausdenken und dann in möglichst viele andere Kanäle adaptieren. Was Agenturen heute leisten, ist tatsächlich ziemlich kompliziert und verlangt ein gutes Zusammerrarbeiten von verschiedenen Experten.

Auf der anderen Seite wird es für Unternehmen in Pitches immer schwieriger zu entscheiden, welcher der Ansätze denn für sie der richtige ist. Und weil sie die Entscheidung nicht nach bestem Wissen und Gewissen fällen und auch nicht zur Bauchentscheidung machen wollen, wird getestet. An dieser Stelle wird es spannend, denn nicht selten sagt der gewählte Test  so gut wie gar nichts über die zu erwartende Kampagnenleistung aus. Am Ende ist er dann nicht die Grundlage dafür, die richtige Entscheidung zu treffen, sondern überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Dann doch lieber den gut geschulten Bauch entscheiden lassen, oder?

 

Tests wie zu Mad-Men-Zeiten

Grund dafür: Es wird nicht selten getestet wie zu Mad-Men-Zeiten – also nicht die Kampagnenwirkung, sondern die Wirkung eines einzelnen Mediums. Das kann, gar nicht so abwegig, das Medium mit dem höchsten Mediavolumen sein (z.B. TV), aber auch das Medium, das am einfachsten zu testen ist (z.B. Print), oder auch das Medium, das zur Präsentation von allen Agenturen am ‚fertigsten‘ präsentiert werden kann (z.B. auch Print). Alles irgendwie verständlich und begründbar: Niemand will einen erheblichen Teil seines Budgets schon fürs Testen aufwenden. Niemand will die Entscheidungsfindung durch hochkomplexe Testszenarien noch erschweren, statt sie zu vereinfachen.

Aber es geht auch anders. Man kann die Kampagnenwirkung testen. Es gibt Institute, die versuchen, eine relativ realistische Medienumgebung herzustellen und die Kampagnen mit allen ihren Ideen in den meisten der verschiedenen Kanäle abzubilden. Am Ende wird die gemeinsame Kampagnenwirkung der unterschiedlichen Ansätze bewertet. Auch solche Methoden sind sicher angreifbar. Aber sie spiegeln die Medienrealität deutlich besser wider als das Testergebnis eines einzelnen Mediums. Deshalb sind sie auch die bessere Entscheidungsgrundlage. Denn die Schwierigkeit des Tests nur eines einzelnen Mediums ist nicht nur weniger realitätsnah, sondern fördert auch die taktische Konzentration der Agenturen im Pitch auf eben dieses Medium.

 

Verschwendung von kreativem Potenzial

Weiß man als Agentur: Es geht zwar um ein Multichannel-Konzept, getestet wird aber nur Print; weiß man dazu, dass der Kunde durchaus ein solides Testvertrauen hat: Dann ist klar, worauf man das größte Augenmerk lenkt. Nicht zuletzt macht man ja nicht nur ideologische Markenarbeit, sondern will an erster Stelle einfach mal den Kunden gewinnen. Es wird also sehr taktisch gehandelt: Was misst der Test und wie? Was müssen wir tun, um im bestehenden Szenario besonders gut auszusehen?

Die Agenturen konzentrieren sich in einem solchen Fall nicht mit voller Konzentration darauf, die bestmögliche Kampagne mit der bestmöglichen Gesamtwirkung zu erarbeiten, sondern zumindest implizit auf das bestmögliche Abschneiden im Testszenario. Also zum Beispiel vor allem die eine Testgewinner-Anzeige zu präsentieren.

 

Drei Handlungsvorschläge für Marketer

Aus meiner Sicht ist das Verschwendung von kreativem Potenzial! Denn „Kennst du eine(n), keImst du alle“ ist schon auf Frauen und Männer bezogen ein schlechter Spruch, auf Kampagnen und ihre einzelnen Ideen und Kanäle bezogen, ist er schlichtwegg falsch. 360 Grad dasselbe ist heute keine Lösungsalternative mehr.

Für Marketingverantwortliche in Pitchsituationen fallen mir drei verschiedene Handlungsvorschläge ein:

1. Testen Sie weiterhin nur ein Medium, wenn es denn unbedingt sein muss und das Budget nichts anderes zulässt. Aber sagen Sie den Agenturen dann bitte vorher nicht welches. Und nehmen Sie das Ergebnis als Entscheidungshilfe, aber nicht als Entscheidungsgrundlage.

2. Testen Sie besser die übergreifende Kampagnenwirkung. Um nicht arm zu werden, müssen Sie dafür aber im Zweifel auf tiefe Erkenntnisse zu einzelnen Medien verzichten. Auch dieses Ergebnis ist nur eine Entscheidungshilfe. Aber schon mal eine bessere.

3. Testen Sie am besten für eine Pitchentscheidung gar nicht. Vertrauen Sie stattdessen auf ihr eigenes Wissen und Gefühl und das ihres Teams. Wenn Sie sich für einen Ansatz und eine Agentur entschieden haben, können Sie die Kampagne immer noch ausgiebig testen und optimieren. Sie haben aber die Sicherheit, Agentur und Ansatz gewählt zu haben, die Sie wirklich wollen und mit denen es sich lohnt, einen guten Teil der nächsten Zeit zu verbringen.

 

 

Foto:

comments powered by Disqus