Die Wiedergeburt des Homo Oeconomicus

Menschen entscheiden oft irrational – aber damit könnte bald Schluss sein. Denn künstliche Intelligenz wird sie bald unterstützen, Konsumentscheidungen besser und schneller zu treffen. Und das hat gravierende Folgen für Markt und Marketing.

Von Bertram Rusch, Strategic Planner bei  GGH MullenLowe, Hamburg.

 

Die Zukunft wird ohne den Menschen gemacht

Programmatic Advertising, Bots, KI – viel wird diskutiert über die technologische Zukunft und wie sie das Marketing verändern wird. Nicht so stark jedoch ist der Diskurs, wie diese Technologien die Menschen selbst verändern könnten – und damit die Konsumenten, um die sich alles dreht. Insbesondere aus verhaltensökonomischer Perspektive ist das aber sehr interessant, denn künstliche Intelligenz könnte das Marktverhalten der Einzelnen maßgeblich beeinflussen – und damit die Grundlage der Werbung.

 

Heute: Den Homo Oeconomicus gab es nie

Wenn es um Entscheidungen von Konsumenten geht, besteht überwiegend Einigkeit: höchst irrational. Das alte, ökonomische Konzept des Homo Oeconomicus als rationaler, seinen eigenen Nutzen maximierender Agent ist in der Praxis de facto nicht vorzufinden. So fasste etwa der Journalist und Philosoph Thomas Vašek nach der letzten Wirtschaftskrise zusammen, es sei Zeit für ein neues Bild vom Menschen: Der Homo Oeconomicus sei „ein Papiertiger“, eine „vermutlich falsche Theorie über menschliches Handeln“.

Unter anderem die Prospect Theory (Neue Erwartungstheorie) legte den wissenschaftlichen Grundstein für eine wegweisende Gegenbetrachtung: die „Behavioral Economics“, die auch im Marketing viel Beachtung finden. Das erwiesen irrationale Verhalten der Menschen wurde so auch zur Handlungsanweisung: Anker, Halo, Framing, Besitztumseffekt, … die Liste der „Cognitive Biases“ ist lang.

 

Demnächst: Digitale Helfer optimieren menschliche Entscheidungen

Jetzt kommt künstliche Intelligenz ins Spiel. Sie ermöglicht zunehmend, natürliche Schnittstellen zum Menschen zu nutzen und das Leben flüssig zu optimieren. Microsoft-Chef Satya Nadella verkündete im März 2016 etwa, Bots seien wie neue Apps. Die Suche nach einzelnen Apps oder Websites sei bald Geschichte, künftig rufe man die gewünschte App einfach aus einer Unterhaltung heraus auf. Die WirtschaftsWoche fasst zusammen: „Irgendwann werden dann auch Bots mit Bots reden, zum Beispiel der persönliche Autobot mit dem Werkstattbot und dem Kalenderbot, um den nächsten Ölwechsel zu planen.“

Nadella beschreibt damit die Zukunft der persönlichen Assistenten. Und zwar keine „Pocket Digital Assistants“, wie sie vor 10 Jahren mit Antenne und 500g schwer in den Aktentaschen verschwanden. Sondern intelligente Algorithmen, die alle Befehle des Nutzers ausführen, hochsensibel lernen und somit eine wirkliche Hilfe im unübersichtlichen Informationsangebot werden. Und die im Zweifel starke Gatekeeper zwischen den Menschen und ihrer digitalen Umwelt darstellen.

 

Morgen: Der Homo Oeconomicus erblickt das Licht der Welt

Noch interessanter werden diese Personal Assistants, wenn sie nicht nur die Wettervorhersage vorlesen oder Kalendereinträge organisieren, sondern ihre Intelligenz auf menschliche Konsumwünsche anwenden – und „richtige“ Entscheidungen treffen oder vorbereiten.

Damit tritt nicht nur ein Intermediär zwischen Mensch und Markt, sondern die menschlichen Entscheidungen werden auch auf eine außerordentlich rationale Basis gestellt. Folgt der Mensch diesen ökonomisch optimalen Entscheidungen, könnte er sich im Wirtschaftskontext nun doch noch (passiv) in den Homo Oeconomicus verwandeln.

 

Folgen für den Markt

Eine denkbare: Werbebotschaften auf Produktebene laufen ins Leere, wenn immer stärker operationalisierte Auswahlkriterien (Qualität, Transaktionskosten, Anschaffungspreis, Wertabnahme u. v. m.) die entscheidende Rolle spielen. Vor allem könnte dies bei Entscheidungen zum Tragen kommen, bei denen es im Vorfeld keine klaren Präferenzen gibt oder wo der Rechercheaufwand groß ist, etwa kleinere wie größere Investitionsentscheidungen: Handyverträge, Rasenmäher, Waschmaschinen, Reisen, Autos, Energieversorgung, Versicherungen, Produkt-Service-Bundles …

Hinzu kommt, dass die emotionale Entfernung der Konsumenten zu bestimmten Produktkategorien weiter verstärkt wird und der Markt noch weiter fragmentiert: einerseits in eine zunehmend größer werdende Kategorie „Commodities“, die eher standardisiert funktionale Bedürfnisse befriedigen, und andererseits in Produkte, zu denen Konsumenten überhaupt noch eine emotionale Bindung aufbauen können und wollen.

Durch die ausgelagerte, kostenlose sowie maximal komfortable Entscheidungsfindung sinken Transaktionskosten für Konsumenten derart, dass auch eine allgemein höhere Volatilität in Vertragsverhältnissen zu erwarten ist. Der Konsument beauftragt seinen Personal Assistant etwa mit einem Stromanbieterwechsel. Dieser recherchiert und präsentiert die Ergebnisse. Kündigung und Neuvertrag müssen nur noch per Fingerabdruck bestätigt werden – weg ist der Kunde. Oder er lässt seinen Personal Assistant gleich zu Vertragsabschluss in einem mit Kündigungsfristen abgestimmten Intervall automatisch nach günstigeren Lösungen suchen und diese vorschlagen.

 

Drastische Folgen für Marketing und Werbung

Erstens: Wenn das Konsumentenverhalten in Zukunft stark rationalisiert wird, bedingt und befördert durch kühle Algorithmen und eine Vielfalt an Datenplattformen und -anbietern, muss Werbung vor allem eines: sich mit viel Herz und Wärme in den schlauen Kampf gegen die kühle Macht der Algorithmen stürzen. Denn der Homo Oeconomicus könnte wie ein Exoskelett gesehen werden, gleich einem Faraday’schen Käfig: Wer es schafft, den Menschen darunter zu erreichen, der hat einen wichtigen Schritt geschafft.

Und zweitens: Wenn auch Kundenbindung noch wesentlich schwieriger wird, als sie es heute schon ist, müssen Unternehmen und Agenturen noch intensiver ein echtes Customer-Relationship-Management entwickeln mit dem Ziel einer aufrichtigen, ernsten und belastbaren Beziehung zu ihren Kunden. Es geht um die Loyalisierung der Herzen, anstelle der heute oft vorzufindenden Performance-CRM-Maschinen, die Kunden zwar immerhin personalisiert, aber eben doch immer mit den gleichen Sonderangeboten per Newsletter versorgen.

Diese Bemühungen aber lohnen nur für die Produkte, bei denen Marken mittels Emotionen überhaupt noch eine gewisse Relevanz entwickeln können – deren Kauf also aus Geschmacks- oder sonstigen Gründen noch nicht dankend an Algorithmen übertragen wird. Und Marketer sollten hier schon sehr früh klar entscheiden, welcher Kategorie ihre Marke angehört.

Quellen

http://www.theeuropean.de/thomas-vasek-2/5448-den-homo-oeconomicus-gibt-es-nicht

http://www.wiwo.de/unternehmen/it/microsoft-setzt-auf-bots-satya-nadella-ruft-das-ende-der-apps-aus/13384796.html

 

 

 

new business

Erschienen in: new business / 24.07.2017

Quelle Titelbild: georgejmlittle@shutterstuck.com

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