APG Open Source 2014: “Identität – Das Ich in Uns.”

Im Vorfeld der Open Source 2014, die diesen Donnerstag in Hamburg stattfindet, hat Vincent Schmidlin, der Vorstandsvorsitzende der Account Planning Group Deutschland (APG), mit den diesjährigen Rednern über das zentrale Thema der Veranstaltung gesprochen: über Identität.

 

Vincent Schmidlin: Sie alle werden bei der diesjährigen Open Source das Leitthema Identität aus Ihrem jeweiligen Blickwinkel beleuchten. Erik H. Erikson meint, „Identität ist der Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will, und dem, was die Umwelt ihr gestattet“. Wie lautet Ihre Definition von Identität?

Johanna Schönberger: Identität ist all das, was mich ausmacht. Stevie Schmiedel: Identität ist das Selbstbild, das wir von uns haben. Wenn wir als Kleinkinder anfangen zu denken, denken wir in der menschlichen Sprache. Sprache funktioniert über Ausschlüsse: Wer männlich ist, kann nicht weiblich sein, wer konservativ ist, hat keine neongefärbten Haare. Diese Regeln bestimmt unsere Kultur. Ein CDU-Wähler mit blau gefärbten Haaren bringt uns durcheinander, ebenso wie eine Conchita Wurst: Sie ist nur als Kunst bzw. Celebrity auszuhalten.

Eva-Maria Zoll: Identität ist für mich die Summe aller Rollen, Ideen und Handlungen mit denen ich mich als Individuum im Laufe meines Lebens identifiziere. Franziska Krüger: Für mich ist Identität eine Momentaufnahme in einem iterativen Prozess, in dem wir versuchen, über die Auseinandersetzung mit unserer Umwelt und der Integration neuer Erfahrungen eine Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘ zu finden.

Vincent Beringhoff: Für mich ist Identität die Vorstellung, die ich in Bezug auf mich selbst als Persönlichkeit gerade, in diesem Moment, habe. Sie ist für mich ein Prozess, ein Projekt, an dessen Ende keine fixe, unverrückbare Identität steht, sondern lediglich die Gewissheit, eine Identität zu besitzen. Die Suche nach der eigenen Identität begreife ich als eine Lebensaufgabe, da meine Identität sich mit mir, meiner Umwelt und meinen Mitmenschen in konstantem Wandel befindet.

Raul Krauthausen: Identität ist für mich die Gesamtheit aus vielen einzelnen Merkmalen, die einen Menschen ausmachen. So ist auch meine Behinderung nur ein Merkmal von sehr vielen. Dazu kommt die Ebene von digitalen bzw. medialen Identitäten, die nochmal ein ganz andere Bilder von einem Menschen zeichnen können. Entweder gewollt, von einem selber, oder aber von anderen beschrieben.

Klaus Martens: In den Momenten, in denen ich mich am aktivsten und lebendigsten fühle und glaube, von mir sagen zu können: ‚Das bin Ich‘, empfinde ich die höchste Form der Übereinstimmung meines Selbst. Das nenne ich Identität. Arne Tensfeldt: Identität ist die individuelle Gesamtheit von Persönlichkeitsmerkmalen sowie Charaktereigenschaften. Sie ist geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen im Laufe des Lebens.

 

Schmidlin: Frau Schmiedel, als Genderforscherin untersuchen Sie die identitäre Entwicklung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft. Ist die Suche nach der eigenen Identität geschlechtsspezifisch? Gehen Mann und Frau anders mit der Frage um, wo liegen Unterschiede?

Schmiedel: Beide haben gleich viel Angst, für andere nicht verständlich zu sein und nicht anerkannt zu werden und optimieren deshalb ständig ihr Selbstbild. Der Unterschied liegt darin, mit welchen Mitteln das Selbstbild erlangt wird und welche Auswirkungen das auf die Geschlechter hat. Während ein Mann sich zum Beispiel breitbeinig auf den Sessel setzt und schwulenfeindliche Witze macht, um männlich gelesen zu werden, wird einer Frau in unserer Kultur eher Konsum und Körperkontrolle angeraten, um weiblich gelesen zu werden. Das Resultat: 80 Prozent der Waren und Dienstleistungen der westlichen Welt werden von Frauen konsumiert.

 

Schmidlin: Was denken Sie, Herr Beringhoff? Sie haben die Erfahrung beider Geschlechter gemacht.

Beringhoff: Die Frage ‚Wer bin ich?‘ gilt als eine der ältesten Fragen der Menschheit und ist somit eine, die sich allen Geschlechtern gleichermaßen stellt. Jungen wie Mädchen müssen lernen, sich in unserer Welt mit ihren vielfältigen Rollenerwartungen zurechtzufinden. Rollenerwartungen und Rollenbilder, die beispielsweise in den Medien vermittelt werden, sind heute häufig noch erschreckend starr, es mangelt an alternativen Konzepten. Eine eigenständige Identität zu entwickeln, die womöglich von den Rollenerwartungen abweicht – und sie dann auch noch gegen Außen zu behaupten – stellt sicherlich eine beträchtliche Herausforderung dar.

 

Schmidlin: Frau Krüger und Frau Zoll, Sie wollen mit dem Workshop ‚Prototype Yourself‘ dazu beitragen, sich der eigenen Identität bewusster zu sein. Wie geht das?

Krüger: ‚Prototype Yourself‘ ist aus dem Wunsch nach einer kreativen Auseinandersetzung mit dem Thema Identitätsbildung entstanden. Darin setzen sich die Teilnehmer mit den Teilen ihrer Persönlichkeit auseinander, die sie ablehnen oder denen sie aus anderen Gründen wenig Raum geben. Wir regen dazu an, den Bereich zwischen den Polaritäten zu erkunden, verschiedene Selbstkonzepte zu entwerfen und zu hinterfragen, widersprüchliche Verhaltensweisen zu integrieren und spielerisch Hypothesen zu testen.

Zoll: Wir wagen den Versuch, Momente zu kreieren, indem wir Menschen die Möglichkeit geben, ihren multiplen Rollen, Gedanken und Idealen ihrer Identität ‚Hallo‘ zu sagen, sie zu (re-)integrieren und aus ihrem Potential zu schöpfen. Es ist wichtig, sich ab und zu zu erinnern, aus welchen Puzzleteilen man sich zusammengebaut hat und diese Puzzleteile von allen Seiten zu betrachten – und im Zweifel auch auszusortieren oder aufzuräumen.

 

Schmidlin: Warum ist es uns ein Bedürfnis, unsere Identität auch optisch zu vermitteln, etwa durch Mode, Make- Up, Bücher oder Accessoires?

Schmiedel: Um sozio-kulturelle Regeln – Männer gehen jagen – durchzusetzen, wurden schon in indigenen Völkern Tatoos oder Schmuck benutzt, um einen Menschen in seiner Identität zu markieren. Heute benutzen wir Make- Up oder Handtaschen, um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Gruppe anzuzeigen. Was früher jedoch über Jahrzehnte hielt, ist durch die Marktwirtschaft heute sehr schneller Veränderung unterworfen: ‚Attraktiv weiblich‘ war früher durch gezupfte Augenbrauen gekennzeichnet, heute durch buschige, die gebürstet werden müssen. Durch ein ständige Veränderung der Identitätsvorgaben, etwa durch Trendsetting in Mode und Werbung, werden uns ständig neue identitätsstiftende Produkte angeboten: Was überall zu sehen ist, wirkt als Normvorgabe.

Schönberger: Wir identifizieren uns mit Dingen, weil Dinge eine bestimmte Bedeutung für uns haben. Sie stehen für etwas – für ein Lebensgefühl, einen Wert, eine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Erfolgreiche Marken gehen meist sehr gekonnt mit dieser Bedeutungsebene von Produkten um. Sie erzählen emotionale Geschichten und erschaffen dadurch immer wieder eine Welt, zu der ich gehören möchte.

 

Schmidlin: Haben diese Dinge selbst eine Identität?

Schönberger: Na klar. Produkte werden von Menschen und Unternehmen gemacht. Es fließen immer ganz persönliche, gestalterische Handschriften der Entwickler und Designer mit ein. Ebenso wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der Anspruch des Unternehmens an die Erfüllung relevanter Kundenbedürfnisse, an Qualität, an Nachhaltigkeit in der Produktion oder auch an den Umgang mit Mitarbeitern. All das macht das Produkt am Ende aus, und der Kunde kann entscheiden, ob er sich damit identifizieren und Teil dieser spezifischen Produktwelt werden möchte.

 

Schmidlin: Können Produkte unsere Identität verändern?

Schönberger: Identität ist für mich etwas Immaterielles und vor allem etwas sehr Authentisches. Sie ist viel mehr als die reine Fremdwahrnehmung. Ein Produkt, mit dem ich nur vorgebe, jemand oder etwas zu sein, was ich in Wirklichkeit nicht bin, wird meine Identität langfristig nicht beeinflussen. Ich könnte mir zum Beispiel eine Brille kaufen, mit der ich wesentlich intellektueller wirke, als ich eigentlich bin. Wenn ich anfange zu reden und damit den Intellektuellen-Eindruck zerstöre, hilft mir aber auch die Brille nicht. Wenn ich das Gefühl habe, ein uninteressanter Gesprächspartner zu sein und das positiv verändern will, muss ich mich weiterbilden. Dabei kann mich die Brille unterstützen, indem sie mich an das erinnert, was ich werden will. Sie ist dann meine Zielformulierung. In dem Augenblick, in dem ich mein Ziel erreiche, brauche ich die Brille nicht mehr für ihre identitätsstiftende Bedeutung.

 

Schmidlin: Warum begleitet uns alle die Frage nach der eigenen Identität ein Leben lang? Warum ist es für uns so ichtig zu wissen, wer wir sind und was uns ausmacht?

Beringhoff: Es gibt sicherlich Bestandteile, die im Kinder- und Jugendalter geprägt und gefestigt werden. Andere Aspekte unserer Identität sind allerdings wandelbar oder müssen neu ausgehandelt werden, vor allem dann, wenn wir uns veränderten Lebensumständen und -aufgaben gegenüber sehen. So wird ein feierwütiger Student, dem heute Unabhängigkeit über alles geht, in Zukunft vielleicht Verantwortung für eine Familie übernehmen und seine neue Rolle als fürsorgender Vater in seine Identität integrieren. Zu wissen, wer wir sind, ist auch darum wichtig, da Identität nicht allein mit uns als Einzelperson zu tun hat, sondern auch mit dem Anderen, in dem wir uns spiegeln können. Nur wer mit sich ‚identisch‘ ist, wird authentisch mit seiner Umwelt interagieren und auch von anderen Menschen als authentisch wahrgenommen werden.

 

Schmidlin: Herr Krauthausen, wird Menschen mit offensichtlichem Handicap gern eine typische Identität ‚untergeschoben‘?

Krauthausen: Ja, das kann vorkommen. Ich habe beispielsweise öfter Aussagen über mich gelesen, dass ich Projekte wie Wheelmap.org – eine Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte – angeblich „trotz“ meiner Behinderung entwickelt habe. Das hinterließ bei mir immer ein komisches Gefühl. Oder Menschen mit Behinderungen werden zu Helden, obwohl sie nur ganz alltägliches durchführen, wie z.B. in die Disco gehen. Wir haben dazu ein kleines Onlineportal für Journalisten gebaut, auf dem sie sich über eine wertfreie Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen informieren können. Die Seite heißt Leidmedien.de. Damit wollen wir die kommunikativen Differenzen zwischen der Identität eines Menschen mit Behinderung und den Klischees über Behinderung abbauen.

 

Schmidlin: Können die ‚medialen Identitäten‘, die Sie erwähnten, helfen, solche Wahrnehmungen zu korrigieren?

Krauthausen: Ja, durch die Kommunikation im Netz können wir auf verschiedenen Ebenen und Räumen andere Seiten von uns zeigen. Das bedeutet nicht, dass man sich verstellt, sondern andere Prioritäten einbaut. Manchmal wissen Online-Bekanntschaften gar nicht, dass ich z.B. im Rollstuhl sitze. Ich möchte gerne Menschen informieren und unterhalten, aber das bedeutet noch lange nicht, dass meine analoge Identität sich nur mit Inklusion beschäftigt oder ich die ganze Zeit Wortwitze reiße. Zudem steht hinter mir ein tolles Team, was mir viel bei meiner Arbeit hilft und das leider manchmal nicht gesehen wird.

 

Schmidlin: Engagieren sich Menschen, die Ihre Identität bewusst hinterfragen, überdurchschnittlich in sozialen Fragen – lässt sich da eine Verbindung herstellen?

Krauthausen: Ich glaube, dass sich unsere eigene Identität immer auch aus der Umwelt, in der wir uns befinden, generiert. Somit hinterfragt man auch automatisch seine eigene Identität, wenn man seine Umwelt hinterfragt. Daraus entwickeln sich dann auch oft soziale Fragen, etwa: Möchte ich hier leben? Kann ich meine Umwelt ändern, wenn ich nicht damit zufrieden bin? Was denkt meine Umwelt eigentlich? In meinem Leben habe ich einige Fragen so beantwortet, dass ich sehr gerne etwas ändern möchte in der Umwelt, in der ich gerade bin. Deswegen habe ich auch mit Freunden den Verein Sozialhelden gegründet. Mit der Arbeit wollen wir andere Menschen motivieren, ihre Umwelt zu hinterfragen, und sie motivieren, etwas zu ändern, wenn ihnen die Beobachtungen nicht gefallen. Wir glauben, dass man auch im Kleinen Sachen verändern kann. Deswegen ist unser Motto auch: ‚Einfach mal machen!‘ Ich kann aber nicht sagen, ob es da eine Verbindung gibt zwischen Hinterfragen und einem stärkeren sozialen Engagement. Viele Menschen kapitulieren vielleicht auch, wenn sie zu viel hinterfragen.

 

Schmidlin: Herr Martens, Sie konnten durch Ihre Dokumentation ‚Die Wand‘ eine interessante Beobachtung zur Identitätsentwicklung machen, wenn nämlich der Dortmunder zum BVB-Fan mutiert. Wie verhält sich die Identität des Einzelnen zur Identität der Südtribüne?

Martens: Ein einzelner Fan würde sich anderswo kaum so verhalten können, wie er sich verhält, wenn er mit 25.000 anderen auf der Südtribüne steht. Die Ausdrucksform des Einzelnen setzt sich üblicherweise einer Öffentlichkeit aus. Diese Öffentlichkeit als Kontrollinstanz verschwindet auf der Südtribüne zugunsten einer Verschmelzung zur Gruppenidentität.

 

Schmidlin: Wenn die Südtribüne eine Person wäre, wie würden Sie die beschreiben?

Martens: Wenn Sie die Südtribüne als die Summe der Fans meinen, gilt diese Antwort: Die Person Südtribüne wäre in der Lage, sich während einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort auf fast vollständig ungehemmte Weise auszudrücken und auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Nach Ablauf der Zeit zerfiele das Bewusstsein dieser Person in eine Vielzahl widersprüchlicher Gedanken und Ansichten, die nicht vereinbar, nicht kompatibel sind. Diese Person litt also während des größten Teil ihres Lebens unter Schizophrenie, deren Symptome immer nur zu jener Zeit verblassen, zu der sie an dem Bestimmungsort ist. Wenn Sie jedoch die Südtribüne als architektonisches Bauwerk meinen, dann ist sie eine Person, deren Imposanz durchaus auch im unbekleideten Zustand anzusehen ist, die aber während ihrer Ruhephasen eher stoisch der Dinge harrt, die sie zu bestimmten Zeiten geradezu explodieren lässt. Dann gelingt es ihr, auf eine ungeheure Weise die Aufmerksamkeit derer auf sich zu lenken, die eigentlich etwas ganz anderes wollen, als sie zu beobachten. Die Person Südtribüne trägt dazu jedes Mal ein neues Kleid aus 25.000 kleinkarierten, meist gelben oder schwarzen Karos, deren Anordnung aber immer dieselbe ist.

 

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