Renaissance 4.0 – über die (Wieder-)Entdeckung der Menschlichkeit

Neulich zeigte mir ein Kollege, der gerade erst selbst Vater geworden war, ein Video, in dem ein anderer Vater sein eigenes Baby zufällig dabei filmt, wie es sein erstes Wort sagt. Das Bemerkenswerte dabei: Das erste Wort des Babys war nicht etwa „Papa“ oder „Mama“, sondern „Google“. Dieses Video ist beispielhaft für eine Welt, in der digitale Technologien das menschliche Handeln und Denken zunehmend bestimmen – statt es im positiven Sinne einfacher, bequemer und praktischer zu machen.

Von Ingo Waclawczyk, Creative Director anyMOTION, Düsseldorf

 

Wird es unser unvermeidliches Schicksal sein, dass uns sichtbare und unsichtbare digitale Technologien dominieren? Oder können wir eine Zukunft gestalten, in der ein zeitgemäßer Humanismus der wesentliche Faktor sein kann. Eine Zukunft, in der menschliche Grundbedürfnisse wie Emotionen, Beziehungen, Gemeinschaft, Kreativität und Werte mindestens genauso wichtig sind wie die allgegenwärtigen Technologien.

 

Zurück in die Zukunft

Den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt aller geschäftlichen Aktivitäten zu stellen, ist in diesem Zusammenhang eines der Trendthemen im Marketing. Dabei ist dieser Ansatz nicht neu, sondern war schon ein zentraler Aspekt in der Renaissance. In jener unruhigen Zeit, in der Erfindungen wie zum Beispiel der Buchdruck mit beweglichen Lettern die Gesellschaft grundlegend veränderten, dienten außerdem die Werte der Antike als Inspiration und Grundlage für die Entwicklung einer neuen Geisteshaltung: des Humanismus.

Die digitale Epoche scheint nun auch an einem Punkt zu sein, an dem eine Rückbesinnung auf das Menschliche gesucht wird. Daher spielt das Thema „Menschlichkeit“ auf der GROW 2019, der diesjährigen „APG Strategenkonferenz“, die zentrale Rolle. Unter dem Motto „HUMANISATION. Mensch zuerst. Dann Maschine.“ diskutieren die Strategen am 27. Juni in Hamburg darüber, welche Auswirkungen der digitale Wandel auf uns Menschen hat. Und suchen nach Einsichten und Inspirationen, die sich in möglichst konkretes Handeln umsetzen lassen.

Im Zusammenhang mit Methoden wie „Human Centricity“ liest man immer wieder die Begriffe Empathie und Mitgefühl. Darunter kann sich sicher jeder etwas Positives und Hilfreiches vorstellen, aber was bedeutet das jeweils in Bezug auf die Zusammenarbeit von Menschen in Organisationen? Eine Zusammenarbeit, die heute noch zu einem großen Teil hierarchisch organisiert ist.

 

Nicht das Gleiche: Empathie und Mitgefühl

Rasmus Hougaard, Gründer und Managing Director von Potential Project – einem Anbieter von Mitarbeiterschulungen –, vertritt die Auffassung, dass es für eine bessere Zusammenarbeit notwendig ist, zwischen Empathie und Mitgefühl zu differenzieren. Empathie entspringt demnach dem unmittelbaren Drang, spontan einem anderen Menschen in Not zu helfen. Mitgefühl hingegen basiert auf einer eher übergreifenden und immer gültigen Haltung des Wohlwollens für andere Menschen im Allgemeinen. Aktionen, die auf Empathie basieren, haben meistens nur einen kurzfristigen Effekt und führen nicht zu nachhaltigen Veränderungen. Mitgefühl hingegen ermöglicht – kurz gesagt – differenzierte und nachhaltige Lösungen.

Damit jeder selbst herausfinden kann, wie viel Mitgefühl er hat und was Mitgefühl in der Zusammenarbeit bedeutet, hat Potential Project einen Fragebogen entwickelt und zum Selbsttest auf der Website der Harvard Business Review online gestellt (Link im Anhang). Generell scheint die Differenzierung von Empathie und Mitgefühl im englischen Sprachraum weiter entwickelt zu sein als bei uns. Ein Beispiel: Auf der deutschen Wikipedia-Version verweist die Suche nach „Mitgefühl“ auf die Seite „Empathie“, während bei der englischen Wikipedia-Version „compassion“ und „empathy“ über eigene Seiten verfügen.

Zahlreiche Fachleute forschen in den USA an diesen Themen und veröffentlichen ihre Erkenntnisse. Einer von ihnen ist der Psychologe Paul Bloom, der ein Buch mit dem bewusst provokanten Titel „Against Empathy“ geschrieben hat. Darin vertritt er die These, dass Empathie nicht die positive Haltung ist, als die sie die meisten von uns im Allgemeinen ansehen. In dem Buch werden Experimente und Studien vorgestellt, die zeigen, dass die Empathie in Gehirnregionen stattfindet, die für eher reflexhaftes Verhalten verantwortlich sind. Mitgefühl dagegen findet in der Region des Gehirns statt, die für ausgewogene Urteile verantwortlich ist. Entscheidungen, die auf Empathie beruhen, richten laut Bloom oft mehr Schaden an, als sie nützen. Empathie kann sich außerdem immer nur auf eine Person beziehen und die unmittelbaren Folgen von Entscheidungen können nicht berücksichtigt werden. Bloom plädiert daher dafür, eher Mitgefühl einzusetzen – besonders dann, wenn von Entscheidungen nicht einzelne, sondern viele Menschen betroffen sind.

 

Für mehr Menschlichkeit: Mitgefühl trainieren

Die gute Nachricht: Mitgefühl kann trainiert werden. Die Experten von Potential Project schlagen als eine wesentliche Übungsmethode die Meditation vor. Nach ihren Recherchen reagieren Menschen, die jeden Tag für nur zehn Minuten über Mitgefühl meditieren, schon nach kurzer Zeit ganz anders auf unerwartete Ereignisse: nämlich gelassener, überlegter, weniger reflexhaft. Außerdem geht es darum zu üben, sich in Situationen, in denen relevante Entscheidungen getroffen werden müssen, etwas mehr Zeit zu lassen. Nach den Erkenntnissen der Forscher reichen zwei Minuten Zeitabstand völlig aus, um zu einer differenzierten, überlegten und ausgewogenen Entscheidung zu kommen.

Die Entwicklung hin zu einer digitalen und zugleich menschlichen Welt startet bei jedem Einzelnen von uns. Vor der aktiven Veränderung steht aber oft die Frage: Wie anfangen? Eine sehr interessante Möglichkeit stellt der australische CEO-Coach Anthony Howard in seinem Buch „Humanise“ vor. Dafür hatte er im Laufe der Zeit zahlreiche führende Persönlichkeiten zu ihren Einstellungen befragt. Auf Basis seiner Beobachtungen hat er das Prinzip der „Human-Centred Leadership“ entwickelt und zeigt in seinem Buch ganz konkrete Maßnahmen auf, die nicht nur Führungspersönlichkeiten, sondern jeder sofort für sich umsetzen kann.

Am Anfang steht die Erstellung einer „Journey Map“, auf der man skizziert, wo man aktuell steht, wohin man sich entwickeln möchte, wer man in diesem Prozess sein möchte und was man unterwegs machen wird. Im weiteren Verlauf des Prozesses geht es um Fragen der Moral, klassische Werte wie Schönheit, Güte und Wahrheit, wie man weise Entscheidungen trifft und wie man die Beziehungen zu den Mitmenschen pflegt.

Die Fragen und Methoden von Howard verlangen eine tiefgründige und ehrliche Beschäftigung mit sich selbst. Dabei ist die ermutigende Botschaft: Jeder Mensch hat das Potenzial, die beste Version seiner selbst zu entwickeln. Jeder von uns hat die Möglichkeit, den Sinn des eigenen Lebens zu erkennen und zu nutzen – zum eigenen Wohl und zu dem von Organisationen und der gesamten Gesellschaft.

 

Links:

 

Erschienen in: new business Nr. 27.05.2019

Quelle Titelbild: DisobeyArt@shutterstock

 

 

 

 

comments powered by Disqus