Was getan werden muss

Der Kapitalismus hat Fieber. Und mit ihm das Marketing. Die Wirtschaft muss aktiv „WeCapitalism“ gestalten. Erstens haben wir dazu aus dem bestehenden System heraus gar keine Alternative. Und zweitens steht ein „Weiter so“ unter begründetem Anfangsverdacht eines Markenkapitalverbrechens.

Von Andreas Eßer, 2BD1 [to be done], Berlin

 

Als Markenstratege steigt man täglich in die Tiefen des kapitalistischen Seins und kramt in den Eingeweiden der individuellen Konsum Psyche. Aber nur die wenigsten haben das Privileg, wirklich geiles Zeug sinnvoll zu verbreiten. Denn wir vermarkten selten das Wahre, Richtige, Beste, sondern regelmäßig das Banale, Sinnlose, Durchschnittliche. Und all abendlich mutieren wir dann zu leidenschaftlichen Konjunktiv-Junkies, die mit „Hätte“, „Könnte“ und „Müsste“ das real existierende Welt-Wirtschafts-Ökologie-Politik-Problem-System – also das große Ganze – auf der Tonspur zu ändern versuchen.

 

Das System kollabiert früher oder später

Denn auch wir Marketer wissen, dass 70 % der Dax-Konzerne mit oder an Rüstung Geld verdienen. Wir wissen, dass durch den kapitalistischen Raubbau an der Natur der Klimawandel zu unseren Lebzeiten immer vehementer und ziemlich teuer zuschlagen wird. Wir wissen, dass grenzenloses Wachstum in einem geschlossenen System nicht möglich ist – das geht nur auf Kosten von anderen im System. Wir wissen, dass die ganze Welt den Lebensstil der westlichen Industrienationen gar nicht erreichen kann, weil dazu die Biokapazitäten von fünf Erden notwendig sind. Wir wissen, dass das Weltwirtschaftssystem heute dreifach überschuldet ist, während sich in den 1980er-Jahren Schulden und Guthaben noch die Waage hielten.

Wir leben ökonomisch und ökologisch au Pump und die Blase wird platzen. Einige von uns verdienen auf der Zielgeraden ganz gut. Neben den Bankern auch die Marketer, die Kraft ihrer Expertise dieses System eben auch am Laufen halten.

 

Die Öffentlichkeit denkt systemisch um

Allerdings klingeln auch im Marketing alle Alarmglocken, wenn Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, feststellt, dass „das kapitalistische System nicht mehr in diese Welt passt“; wenn Henrik Müller, der stellvertretende Chefredakteur des ‚Manager Magazins‘, „die westliche Wirtschaftsordnung in eine selbstzerstörerische Richtung“ degenerieren sieht; und wenn der Allianz- Vorstand Paul Achleitner, zudem Aufsichtsratsmitglied bei Bayer, RWE und Daimler, öffentlich „eine neue Zeitrechnung – und zwar nicht kalendarisch“ ausruft.

Spätestens jetzt sollte jeder intelligente Mensch – zu denen ich die Mehrheit der Zunft rechnen möchte – nüchtern diskutieren und feststellen dürfen: Alles, was wir heute in Branding, Marketing und Kommunikation scheuklappenartig fortsetzen, damit wenige kurzfristig maximal profitieren, wird unter Beteiligung wirtschaftskonservativer Kräfte zur Nachhaltigkeits-Disposition gestellt. Und steht auch immer mehr unter öffentlich-mentaler Anklage. Deml eine grundsätzlich neue Wertekalibrierung findet in der gesellschaftlichen Elite, in immer mehr Vorstandsetagen und vor allem im breiten öffentlichen Bewusstsein statt – besonders in Deutschland.

Nach mehreren Emnid-Studien (2010-2012) im Auftrag der Bertelsmann Stifhlng und des Axel-Springer-Verlags zweifeln über 80 % der deutschen Bevölkerung am bestehenden Wirtschaftssystem. Über 50 % können sich den Sozialismus als Alternative gut vorstellen. Und über 30 % sind bereit, eine Partei zu wählen, die einen grundsätzlichen und  aussichtsreichen Angriff auf die bisherigen politischen und parlamentarischen Strukturen fährt.

In diesem gesellschaftlichen Kontext eines sich aufschaukelnden Partizipations-, Veränderungs- und Konsumismus-Tsunamis ist es nicht wirklich aussichtsreich, den Protagonisten und Helden des Immer-weiter-so-Kapitalismus ideologisch oder moralisch zu kommen. Was Wirtschaftsberater und Marketing vor allem vorlegen müssen, ist eine betriebswirtschaftlich stichhaltige Argumentation, die am Ende einfach klingt: Wenn Marken Dinge tun, die für die gesamte Gesellschaft relevant und wertvoll sind, dann werden automatisch die Angebote eben dieser Marken für jeden Konsumenten relevanter und wertvoller.

 

„WeCapitalism“ als Alternative im Kapitalismus

Die Marken, die Verantwortungswirtschaft, Gesellschaftsrelevanz und Nachhaltigkeit fundamental als Wettbewerbsfaktor in der Markenarbeit integrieren und es nicht bei einem institutionellen Corporate Social Responsibility-Programm belassen, werden Marktanteile gewinnen, die Wettbewerbsfähigkeit stärken, die eigene Zukunftsfähigkeit sichern und einen relevanten Legitimationsvorsprung erhalten, Geld zu verdienen.

Weil die Glaubwürdigkeit dabei die entscheidende Rolle spielt, bleibt in letzter Konsequenz überhaupt keine Alternative, als eine reine Kapitalertragsorientierung auf eine neue Symbiose aus betriebswirtschaftlicher und geseIlschaftsrelevanter Wertschöpfungsorientierung zu skalieren. Um sich mit „WeCapitalism“ als Wir-Für-Uns-Allrounder als Wir-Gegen-Die-Alternative im oder zum bestehenden System zu positionieren und damit im wahrsten Sinne des Wortes gutes Geld zu verdienen.

 

Marken entscheiden jetzt über die freien Tickets

Für institutionelle Marken im öffentlichen Raum, die das infrastrukturelle Rückgrat der Gesellschaft bilden und um deren Funktion die Gesellschaft weiß, bieten sich ultimative Chancen: Finanzen, Telekommunikation, Energieversorger, Medien, Mobilität und Logistik, Mineralöl. Aber nur eine Marke pro Branche wird das Thema im Markt gewinnbringend besetzen können: zunächst die erste, mittelfristig die glaubwürdigste. Andere wenige Marken wie zum Beispiel Balm, Sparkasse, Landesbanken, Volkswagen aber auch Aldi haben durch Angebot, Besitzverhältnisse, Historie, Name oder Rechtsform einen Vorteil. Sie werden ihn nutzen.

Pepsi ist das Thema mit dem 20-Millionen-Dollar-Refresh-Project und dem Claim „Do Good“ nicht mehr zu nehmen. Verwendet der Textilkonzern Benetton endlich dauerhaft prägnante Teile des erwirtschafteten Gewinns, um die Dinge zu verändern, mit denen er wirbt, dann ist die Kampagne keine Effekthascherei mehr, sondern Absatzmotor. Spielen genossenschaftliche Banken ihre nachhaltige Identität gegen die anderen Banken offensiv und glaubwürdig aus, werden sie zur „Good-Bank-Ikone“. Kunde bei der turbokapitalistischen Konkurrenz bleibt dann noch eine wahrnehmungs- und verantwortungsgestörte Gattung Mensch, dem die Einschläge oder Straßenschlachten in Griechenland noch zu weit weg sind.

Denn unaufhaltsam dreht sich das Rad von der egozentrierten Konsumgesellschaft (persönliche Nutzen entscheidet) über die Informationsrevolution (Nutzen und Content entscheidet) zur Wertegesellschaft (Nutzen, Content und gesellschaftsrelevante Substanz entscheidet, was Must-Do, Must-Have und Must-Buy ist). Man kann dem entgegnen: „Das pendelt sich schon wieder ein.“ Liebe Kollegen, ich glaub das nicht! Die, die es auch nicht glauben, machen daher jetzt im Marketing die Dinge, die auch aus gesellschaftlicher Sicht wert sind, getan zu werden. Sie verbindet die Überzeugung, dass das, was getan werden kann, früher oder später getan werden muss.

 

 

Foto: „East 11th Street“ | Michael Klockmann | photocase.de

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