Quo vadis Besitz? Oder was bedeutet Besitz heute?

Von Bettina Seiger, Research & Insight Planner, Grey Düsseldorf

 

Vor fast 100 Jahren hat Coco Chanel bereits ein heute sehr aktuelles Phänomen erkannt: „Ich kaufe gern, doch das Schlimmste daran ist, dass man das Gekaufte dann besitzt.“ Jeder Europäer besitzt durchschnittlich ca. 10.000 Objekte. Das hört sich erst einmal nach unendlich viel an. Doch wer öfters umzieht, kann diese Zahl bestens nachvollziehen. Bei meinem letzten Umzug habe ich gefühlt weit mehr als 10.000 Objekte fünf Stockwerke nach unten getragen. Keller und Ecken standen voll mit Dingen, die ich eventuell doch noch einmal benutzen könnte. Gut verpackt noch vom letzten Umzug! Tapfer habe ich mich dieses Mal getrennt: alte Kleidung zu Oxfam, Bücher in öffentliche Boxen und den Rest verschenkt oder auf den Sperrmüll. Vermisst habe ich bisher nichts. Auch bei meinen Freunden beobachte ich dieses Phänomen. Ausmisten und sich vom Überflüssigen zu trennen ist ein gegenwärtiges und emotionales Thema. Weniger ist heute mehr. Deshalb stelle ich mir schon seit geraumer Zeit die Frage: Wie viel Besitz brauchen wir heute und welche Bedeutung hat er für uns?

 

In den 80er Jahren war Besitz noch eine klar definierte Sache: „Hast Du was, bist Du was“

Wichtig war „Mein Haus, mein Auto, mein …“. Besitz war mit Wohlstand verknüpft. Heute scheint Besitz eine andere Bedeutung zu haben. Besonders jungen Menschen ist es heute wichtiger, ein vom Wert eher geringeres Smartphone zu besitzen als ein kostenintensives Auto. Das Auto selbst hat sich dagegen vom Prestigeobjekt zum bloßen Vehikel für die Fahrt von A nach B entwickelt. Alte Statussymbole verlieren also immer weiter an Relevanz. Längst kommen viele Menschen freiwillig mit Wenigem aus. Im Extrem sogar mit nur 100 Gegenständen, wie in der Spiegel-April-Ausgabe „Konsum-Verzicht – weniger haben, glücklicher Leben“ beschrieben ist. Der Rest ist geliehen oder gemietet. Besitz scheint bewusster und selektiver zu werden. Zu viel Besitz scheint zu belasten. Leihen und Teilen – neudeutsch: Sharing Economy – sind fester Bestandteil unseres Alltags geworden. Es geht vor allem um die Nutzung und nicht um den Besitz an sich.

 

Die Sharing Economy hat die Einstellung zu Besitz verändert

Neu ist das Phänomen Teilen nicht. Geteilt wird schon seitdem es Menschen gibt. Doch die digitale Welt hat es verändert. Es ist schneller, einfacher und häufiger geworden. Heute wird (fast) alles geteilt. Doch wann wollen wir über etwas nur verfügen und wann müssen wir es wirklich besitzen? Wann wird geteilt oder geliehen? Was Menschen am bereitwilligsten teilen – sind ihre Erfahrungen und Ideen. Sie bekommen so eine Ausweisfunktion. Auch eines der Erfolgsgeheimnisse hinter den Social-Media-Plattformen wie Pinterest, Facebook, Twitter etc.

 

Emotio schlägt Ratio

Besitz hat heute vor allem Relevanz, wenn er mit Emotionen verbunden wird. Diese interessante Beobachtung haben wir mit der Allianz-Kampagne „1 ist mir wichtig“ gemacht. Die Idee für die Kampagne ist inspiriert durch das „Burning House Project“ des Künstlers Foster Huntington aus den USA. Er hat Menschen befragt, was sie mitnehmen würden, wenn ihr Haus brennt. Fosters Ziel ist es, Menschen dazu zu bringen, über Materialismus und die Beziehung zu ihrem Besitz nachzudenken. Allianz hat Foster nach Deutschland geholt, um auch hier Menschen zu befragen. Es zeigte sich deutlich, dass Menschen eher Dinge wichtig sind, die keinen hohen monetären Wert haben. Im Fokus steht das, was sie glücklich macht und durchs Leben begleitet, aber selten das, was sie reich macht. Die emotionale Beziehung ist wichtiger als der rationale Wert. Es geht um Erinnerungen, Erfahrungen und nicht zuletzt um den Ausdruck der eigenen Individualität.

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Heute reicht monetäre Ausweisfunktion allein zur Markenbindung nicht mehr aus

Einige Marken haben diese sich wandelnde Einstellung zu Besitz bereits früh erkannt und aufgegriffen. Zipcar, die Mutter aller Carsharing-Angebote, wurde früh von Avis aufgekauft. Bei allen Carsharing-Angeboten steht ganz der Nutzen im Vordergrund, nicht der Besitz an sich. Laut Bundesverband Carsharing waren Ende 2013 bundesweit rund 757.000 Kunden registriert, rund zwei Drittel mehr als im Vorjahr. Tendenz steigend. Auch VW denkt aktuell über eine Beteiligung an dem Start-up WunderCar nach. WunderCar bietet über eine App Mitfahrgelegenheiten in Privatautos innerhalb einer Stadt an. Es spiegelt den Wandel des Autos vom Statussymbol zum Mobilitäts-Ermöglicher. Nutzung schlägt auch hier Besitz!

 

Besitz bekommt Langlebigkeit und Wertschätzung durch Erlebnisse

Die Outdoor-Marke Patagonia hat bereits 2012 mit dem Aufruf zum Nicht-Konsum das Phänomen aufgegriffen. Ziel war es, Konsumenten anzuregen über den nächsten Jackenkauf gründlich nachzudenken. Daraus entwickelte sich die Webseite „the stories we wear“, die die emotionale Bindung zu den Jacken thematisiert. Brand-Lover können dort ihre Patagonia-Geschichte erzählen. Hier wird alter Besitz zelebriert.

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Alte Konzepte verlieren ihre Gültigkeit

Völlig gegensätzlich hat H&M mit der Conscious Collection – Kleidungsstücke aus recyceltem Polyester – auf das Phänomen reagiert. Ganz nach dem Motto „Viel zu schade zum Wegwerfen“ bittet H&M seine Kunden ausrangierte Kleidungsstücke abzugeben, damit H&M diese neu aufbereiten kann. Das Ziel dahinter: Weniger Müll und gleichzeitig einen Denkanstoß zu unserem Umgang mit Dingen/Besitz zu geben. Fast Fashion wird mit Sinn aufgeladen.

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Doch was bedeutet das für die Markenführung?

Die Möglichkeiten, diese veränderte Einstellung der Menschen für die eigene Marke zu nutzen, scheinen vielfältig zu sein. Sie stehen im Spannungsfeld zwischen Individualität und sozialem Austausch. Es geht um Anerkennung bzw. Ausweisfunktion anderen gegenüber, um Selbstverwirklichung, darum, Erfahrung & Erlebnisse zu teilen, neue Inspiration zu bekommen und neue Beziehungen zu knüpfen. Und manchmal geht es einfach nur um Befreiung, um Platz zu schaffen – die Liste ist lang!

Marken müssen sich aktuell vor allem fragen, was die Menschen bewegt und aus welchen Motivationen heraus sie konsumieren oder eben nicht konsumieren. Wann sie Dinge besitzen wollen oder eben nur noch nutzen. Gerade die Marken, die sehr aus der Status- und Ausweisfunktion kommen, können hier neue Chancen zur Profilierung finden. Unternehmen müssen über neue Geschäftsmodelle nachdenken. Wie kann das eigene Produkt-Portfolio sinnvoll erweitert werden? Ein Handtaschenhersteller kann, anstatt Taschen zu verkaufen, sie einfach vermieten. Bei anderen wird das schon schwieriger. Doch durch intelligente Services können viele ihr Produkt attraktiver machen. Ikea hat es gerade mit dem lebenslangen Umtauschangebot vorgemacht.

Es wird spannend sein zu sehen, wie Marken in Zukunft Besitz für sich neu definieren und basierend auf den Motivationen der Menschen neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln. Gemeinschaftlich genutzte Produkte müssen nach Möglichkeiten der Individualisierung suchen. Statusorientierte Marken müssen sich vom reinen besitzorientierten Denken frei machen!

 

 

Fotos:
Allianz, Patagonia (1;2), Broschüre H&M
I Am Packed

www.new-business.de

 

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