Die Macht der Diskurse in Zeiten digitaler Medien
Je ’schneller‘ die Zeiten, desto wichtiger die Strategien: Selten haben sich innerhalb kurzer Zeit so viele Autoren mit so viel Vehemenz zu Wort gemeldet, die einen „Paradigmenwechsel“, eine „Wende“ oder eine „neue Zeit“ im Umgang mit Marken kommen sehen.
Von Prof. Thomas Heun, New School of Research and Development
Exemplarisch für diese Forderungen stehen sowohl eine Vielzahl der im APG Strategy Corner erschienenen Beiträge als auch eine Fülle an Artikeln im jüngst erschienenen Band ‚Brand Planning‘ von Andreas Baetzgen. Gut daran: Nach langer Zeit des breiten Konsenses über die zentrale Bedeutung von strategisch fixierten ‚Markenmodellen‘ – und der oftmals kleinteiligen Weiterentwicklung dieser Modelle – geraten wieder ‚größere‘ Zusammenhänge in den Fokus der Markenstrategen. Weniger gut: Eine klare Orientierung für die kommunikationsstrategische Arbeit in diesen (viel beschworenen) ‚beschleunigten Zeiten‘ (Rosa 2005) bieten (bisher) nur wenige.
Der Konsens
Die Zeiten, in denen der Werbung von Unternehmen ein hohes Maß an ‚Stärke‘ und Überzeugungskraft zugestanden wurde, scheinen sich mit der Entwicklung der digitalen Medien und dem damit verbundenen ‚Empowerment‘ der Konsumenten unwiederbringlich dem Ende zuzuneigen. Nina Rieke fordert mehr strategische „Agilität“ in „einer schnelllebigen Zeit“ (Rieke 2011, S. 12), Gerald Hensel und Michaela Jausen sehen „die alte Welt der Botschaftenkommunikation“ (Jausen 2011, S. 17) bzw. das Zeitalter der „großen Hollywood-Botschaft“ in der Welt der „Echtzeitkonversation“ (Hensel 2011, S. 5) überwunden, und Annette Bruce plädiert für mehr Offenheit von Marken „für authentischen Dialog mit Kunden und Fans“ von Marken (Bruce 2011, S. 34).
Zusammenfassen lassen sich diese Stimmen folgendermaßen: Das Paradigma der ‚Integrierten Kommunikation‘ hat an Bedeutung verloren. Statt Konsumenten von oben herab über formal standardisierte Werbeversprechen und die Anwendung psychologischer Teclmiken zur Markenwahl ‚überzeugen‘ zu wollen, gilt es heute vielmehr, Menschen ‚auf Augenhöhe‘ zu begegnen und sich auf Dialoge mit ‚Usern ‚ einzulassen.
Die Herausforderung
Trotz aller Einigkeit zur neuen Bedeutung der Dialogorientierung scheinen die Wege in diese medienvermittelten Dialoge mit Konsumenten alles andere als klar vorgezeichnet. Einigkeit besteht höchstens noch darin, dass das ‚Soziale Netz‘ eine Fülle an Möglichkeiten bietet zuzuhören und zu messen (Hensel, ebd.) oder „interessante Insights“ aus dem „Daten-Flow“ zu generieren (Schauerte 2011, S. 8). Das Problem dabei: Erstens sucht man theoretische Ansätze zur Fundierung der ’neuen Dialogorientierung‘ bisher vergeblich. Zweitens sind methodische Innovationen, die ein wirklich tiefes Verständnis von medienvermittelten Dialogen auf sozialen Plattformen erlauben, (bestenfalls) rar gesät.
Die Bewältigung der Herausforderung
Als einen Weg in Richtung einer auf Verständnis und Respekt basierenden Dialogkommunikation schlage ich die Orientierung an dem (kulturtheoretischen) Konzept des Diskurses vor. Der Begriff des Diskurses geht (in seiner heutigen Bedeutung) auf den französischen Philosophen Michel Foucault zurück. Diskurse entsprechen demnach grundlegenden ‚Sinn-Orientierungen‘, aus denen nicht nur thematische Orientierungen, sondern vielmehr Werthaltungen und Handlungen resultieren.
Der Vorteil der Orientierung an Diskursen für die Markenkommunikation liegt auf der Hand: Während ‚Themen‘ die Menschen häufig nur eine kurze Zeit beschäftigen, handelt es sich bei Diskursorientierungen um grundlegende kulturelle Werthaltungen, die das Verhalten von Menschen erstens fundamental und zweitens längerfristig prägen.
Basierend auf diesem Verständnis wurde im Rahmen einer langjährigen Forschungsarbeit die Methode der Web Discourse Analysis entwickelt. Die Anwendung dieser Methode ermöglicht die systematische Analyse von Diskursen und den damit zusammenhängenden kollektiven Werthaltungen, individuellen Geschichten und typischen Verhaltensweisen von Konsumenten (siehe Abb. 1). Und bietet damit: einen Zugang zum ganzheitlichen kulturellen Verständnis von Konsumenten und ein Fundament des Wissens für die strategische Markenkommunikation in Zeiten digitaler Medien. Denn: Nur wer sich wirklich bemüht, Konsumenten, ihre Bedürfnisse und Haltungen zu Marken zu verstehen, der wird in der Lage sein, mit diesen Menschen in eine Beziehung zu treten, die den Begriff ‚Dialog‘ auch wirklich verdient.
Abbildung 1: Das Bild der Marke Mercedes–Benz bei Anhängern der Marke Anhänger von Mercedes-Benz Brand Communities sind ‚Originalos ‚ und die Modifikation der Autos (Tuning) ist verpönt. Die fundamentale Bindungskraft der Marke basiert auf der hohen und umfassenden Produktqualität. Sie sind statusorientiert und schätzen an ‚ihrer‚ Marke das Design, die Technik und die Leistung der Automobile. Die Besonderheit: Wie auch mit der Marke VW werden mit der Marke Mercedes-Benz eine Fülle an Mythen verbunden (vgl. Heun 2012).
Literatur:
Baetzgen. Andreas (Hrsg.) (2011): Brand Planning. Starke Strategien für Marken und Kampagnen, Stuttgart
Heun, Thomas (i.E. 07/2012): Marken im Social Web. Eine diskursanalytische Untersuchung von Markenbedeutungen in der Kultur von Brand Communities, Wiesbaden.
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veranderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main
Foto: „Liebe deine Stadt“ | complize | photocase.de